Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

Bildungsgerechtigkeit in der BBSG

Das Bildungsangebot an der Schule richtet sich an eine überaus heterogene Klientel – das betrifft die individuellen und strukturellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler (u.a. Alter, Bildungshintergrund, Herkunftssprache, Lebenssituation und Interessenslagen) ebenso wie die Gründe und Ziele für ihren Schulbesuch. An der Schule werden Jugendliche ohne Schulabschluss bis hin zu Abiturientinnen, die später studieren wollen und Hochschulabsolventen unterrichtet. Die Schülerschaft hat sich in den letzten Jahren sehr stark verändert, d.h. sie ist im Hinblick darauf, welche Voraussetzungen und Bedarfe diejenigen mitbringen, die hier zur Schule gehen, deutlich vielfältiger geworden.

Die Eigenverantwortung von jedem einzelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin für den Lernerfolg als übergeordnetes Ziel und damit die Schaffung der Voraussetzung für ein gelingendes (berufliches) Leben ist eine zentrale Prämisse des Handelns der Verantwortlichen an der BSW. Die schon jetzt an komplexen Anforderungen reiche Berufswelt wird sich in den kommenden Jahren weiterhin stark verändern. Eine eigenverantwortliche Haltung und ein eigenverantwortliches Handeln der Schülerschaft werden angesichts dieser Dynamik weiterhin sehr gefragt sein; in deren gezielter Entwicklung sehen die Verantwortlichen an der BSW langfristig den tragenden Pfeiler für eine nachhaltige Stärkung von Bildungsgerechtigkeit an ihrer Institution. Während ihrer Zeit an der Schule soll allen Schülerinnen und Schülern die bestmögliche Orientierung und anschließend die erforderliche Unterstützung geboten werden, die sie brauchen, um eigenverantwortlich für ihr Leben relevante berufliche Entscheidungen bestmöglich treffen und ihr Ausbildungsziel erreichen zu können. Vor diesem Hintergrund ist Bildungsgerechtigkeit ein Leitziel dieser Schule und es bedeutet hier, jedem Schüler und jeder Schülerin mit dem, was sie bzw. er mitbringt und leisten kann, gerecht zu werden. „Das bedeutet nicht, Jugendlichen zu suggerieren, alles würde irgendwie gehen“ (MM), es bedeutet ebenfalls nicht, dass alle gleich behandelt und zum selben Abschluss geführt werden.[1]

Dieses Verständnis von Bildungsgerechtigkeit auf vielfältige Weise umzusetzen gehört zu den Stärken der Schule, die Voraussetzungen dafür sind allerdings nicht immer optimal und stehen der Umsetzung der Idee teilweise im Weg. Gut zu illustrieren ist das am Beispiel der Medizinischen Fachangestellten (MFA): Für viele junge Erwachsene ist das eine große Chance, die darauf zurückzuführen ist, dass ihnen mit einem entsprechenden Schulabschluss die duale Ausbildung offensteht – das ist ein wichtiges Element von Bildungsgerechtigkeit. Allerdings ist zu dem Zeitpunkt, zu dem sie an die Schule kommen, ein Teil noch gar nicht ausbildungsfähig, z.B. was auch ihr sprachliches Niveau betrifft. In den drei Jahren an der Berufsschule lernen die jungen Erwachsenen an der Berufsschule nämlich auch viel über Sprache, Kultur und Gesellschaft. Da der Druck so hoch ist, möglichst viele zu qualifizieren, ist die Gefahr groß, dass auch die, die sich nicht im Berufsfeld wiederfinden, in der Ausbildung landen. Manche entdecken dann, dass das doch etwas für sich ist – andere sind und bleiben in der Ausbildung am falschen Ort. In Verbindung mit der eher kurzen Ausbildungsdauer und der reduzierten Kontaktzeit stößt die Schule gerade bei der zuletzt genannten Gruppe an ihre Grenzen: Ideal wäre in solchen Fällen ein „Berufsgrundbildungsjahr“, das für diejenigen, die an die Schule kommen und das brauchen die Möglichkeit der vertieften sprachlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Orientierung sowie der Stärkung des eigenverantwortlichen Arbeitens bietet. Damit könnte rechtzeitig beurteilt werden, ob es bei der Entscheidung für eine bestimmte Ausbildung bleibt oder doch noch umgesteuert werden sollte. Ein solches Angebot würde dazu beitragen, die Bildungsgerechtigkeit langfristig zu stärken, weil es denjenigen, die es am meisten brauchen, (frühzeitig) das in einem speziellen Angebot bereit stellen würde, was sie am meisten benötigen: Orientierung, wenn möglich ohne großen zeitlichen Druck.

Diese Orientierung bieten die Lehrkräfte allen Schülerinnen und Schüler auch ohne solche besonderen Angebote an der Schule standardmäßig in den mindestens halbjährlich stattfindenden Lerncoaching-Gesprächen. Durch Fortbildungen im Bereich Lerncoaching am Landesinstitut für Schule bereiten sich die Lehrkräfte des Schulzentrums gezielt auf die Vermittlung individueller Orientierungshilfen für eine Schülerschaft mit weiterhin wachsender Heterogenität vor. Das gesamte Kollegium hat, trotz der großen Anzahl an Schülerinnen und Schüler und der reduzierten Kontaktzeit, einen starken Fokus darauf, die Jugendlichen einzeln kontinuierlich im Blick zu halten; so wird beispielsweise bei Fehlzeiten umgehend im Betrieb angerufen. Dieser Fokus ist auch strukturell abgesichert, u.a. durch eine Doppelbesetzung der Klassenleitungen in Tandems – „vier Augen sehen mehr als zwei; auch Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf entgleiten uns auf diese Weise in der Regel nicht“ (MM).

Inzwischen braucht es vermehrt solche niederschwelligen Zugänge (Stichwort „Bindungs-/Beziehungsaufbau“), um Jugendlichen für eine Ausbildung am Schulzentrum zu begeistern. Ein zu großer Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen lässt sich aus ganz unterschiedlichen Gründen auf die Ausbildung nicht mehr zu 100% ein (MM). Eine zentrale Aufgabe der Verantwortlichen an Schule besteht darin, dies positiv zu verändern: Sobald das in höherem Maß gelingt, beispielsweise durch einen Aufbau von Bindung an eine Lehrkraft, ist die Motivation eine Andere und Lernen gelingt deutlich leichter. Auf diesen Fokus hat sich das Lehrerkollegium geeinigt, so dass es nicht dem Zufall überlassen bleibt, dass jede/r Jugendliche bzw. junge Erwachsene hier Unterstützungsangebote erhält, um die bestmöglichen Entscheidungen für den beruflichen Weg zu treffen.

Diese Entscheidungen erfolgen im Kontext sich laufend wandelnder Anforderungen in der Berufsbildung, der von allen Beteiligten schon aufgrund dieser Dynamik hohe Aufmerksamkeit erfordert: Viel Detailwissen, wie es früher Standard war, kann nicht mehr vorausgesetzt werden; es wird heute fast nur noch reproduziertes Wissen abgefragt, wobei auch das Auswendiglernen vielen inzwischen schwer fällt. Die veränderten Rahmenbedingungen hängen zum Teil auch mit der Neuordnung der Berufe zusammen, die ca. alle zehn Jahre stattfindet. Nicht nur Schulen sind vom Wandel dieser Strukturen betroffen; so bietet beispielsweise auch die Zahnärztekammer mittlerweile Nachhilfeunterricht für Schülerinnen und Schüler niedrigschwellig an. Fragen der Abschlussprüfungen werden inzwischen in einem Fragenpool auf der Seite der Zahnärztekammer zusammengetragen. Auszubildende und Ausbilder können über ein Kennwort auf diese Fragen darauf zugreifen. Entstanden ist diese Unterstützung aus der Kooperation zwischen Berufsschule und Kammern, auf die die Schule großen Wert legt. Die Kammern sind im ständigen Austausch mit den Ausbilderinnen und Ausbildern sowie der Schule über realistische Anforderungen, adäquate Prüfungsformate sowie wirksame Maßnahmen zur Reduzierung von Ausbildungsabbrüchen. Bremen als kleinstes Bundesland hat den Vorteil, dass die Zusammenarbeit zwischen Berufsschulen, Kammern und Ausbildungsbetrieben im Vergleich zu den größeren Bundesländern effektiver und einfacher gestaltet werden kann.

Die Jugendlichen bringen heutzutage noch viele andere „Baustellen“ mit, die das Lernen erschweren und die es so früher nicht gab. Es ist ein wichtiger Aspekt von Bildungsgerechtigkeit, diese veränderten Rahmenbedingungen anzuerkennen und ihnen auch in den Lehrplänen Rechnung zu tragen. Statt defizitorientiert zu klagen, muss verstärkt darüber nachgedacht werden, wie sich Berufe in Zeiten von Digitalisierung und Automatisierung verändern und was das für die berufliche Bildung konkret bedeutet. So stellt sich in diesem Zusammenhang beispielsweise die Frage, ob alle sprachlichen Kompetenzen nach wie vor priorisiert werden sollten, oder ob es nicht sinnvoller wäre, beim Thema Deutsch im Beruf die rezeptiven gegenüber den produktiven Kompetenzen zu stärken und andere Kompetenzen, wie z.B. Empathie im Umgang mit Patientinnen und Patienten, in den Vordergrund zu rücken. Die Verantwortlichen berichten von ihrer Beobachtung, dass Jugendliche mit Sprachschwierigkeiten in Deutsch oft deutlich mehr Empathie und Kommunikationsfähigkeit im zwischenmenschlichen Bereich mitbringen (MH).

Dieser regelmäßige Austausch unter den beteiligten Kooperationspartnern trägt ebenso wie die stärkere Durchlässigkeit des Bildungssystems im Vergleich zu früher außerordentlich zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit bei. Viele Jugendliche mit erfolgreich absolvierter Ausbildung legen danach noch ihre Fachhochschulreife ab; das war vor vielen Jahren so noch nicht möglich. Der Schulleiter berichtet von Studien, die zeigen, dass Jugendliche mit erfolgreich absolvierter Berufsausbildung im Studium später bessere Leistungen erbringen als Jugendliche mit klassischem Abitur. Das hängt damit zusammen, dass viele dieser jungen Menschen den Praxis-Theorie-Transfer besser leisten können; „das sehen wir auch bei starken Schülerinnen und Schülern an unserer Schule“ (MH).