15.04.2024, 9.30-12.00h
Als wir ankommen, erhalten wir von Corinna Gloistein-Tietjen zunächst eine kurze Führung durch das alte Schulgebäude an der Langen Reihe sowie den rückwärtig angeschlossenen Neubau. Unser Anker heute ist eine Klasse von Medizinischen Fachangestellten (MFA) im zweiten Ausbildungsjahr. Den Aussagen ihrer Klassenlehrerin zufolge handelt es sich dabei um ein kulturell buntes Berufsfeld, das häufig von Schülerinnen und Schülern besetzt ist, für die das System bisher nicht gearbeitet hat, die in ihren Worten „eher benachteiligt sind, was die Bildungsgerechtigkeit betrifft“ (CG). Dafür kennt ihre Klassenlehrerin die Geschichte und Lebenssituation jedes und jeder einzelnen: Wir treffen die Gruppe von ca. 25 jungen Erwachsenen im 2. Ausbildungsjahr. Sie erzählen uns, dass sie die Zwischenprüfung schon hinter sich haben. Gesine und ich stellen uns vor und skizzieren kurz unser Vorhaben, die Schule und die beteiligten Akteure und Orte zu zeigen sowie über bildungsgerechte Schule mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Es finden sich sieben Freiwillige, die mit uns zum Fotoshooting aufbrechen.
Zu Gesines großer Freude finden sich zum Teil überlebensgroße Modelle menschlicher Organe in verschiedenen Laboren, die jeweils an die Klassenzimmer angeschlossen sind und von denen wir mehrere als potentielle Locations für das Shooting besichtigen. Das riesengroße Modell des menschlichen Herzens wird kurzerhand in den Fahrstuhl verfrachtet und mitgenommen, als feststeht, wo wir bleiben werden. Am Fenster des Labors, das die jungen Erwachsenen als Ort für das Fotoshooting auswählen, klebt ein Sticker: „Brise statt Krise“. Es fühlt sich jetzt schon so an, als könnte das ein Motto auch für unsere bevorstehende gemeinsame Arbeit werden.
Während wir zusammen das Equipment aufbauen, berichten die jungen Erwachsenen, dass sie zwei Tage pro Woche jeweils von 7.45-13.00h an der Schule sind. Montags geht es um Praxisabläufe und Behandlungsassistenz, mittwochs liegt der Schwerpunkt auf medizinischen Fragen, wie beispielsweise Funktionsweisen des menschlichen Körpers, Symptomen, Krankheitsbildern, Diagnosen und Therapien. An den übrigen Wochentagen arbeiten sie in Praxen mit diversen Fachrichtungen in Bremen und umzu. Es gehört zu ihrem Alltag, diese unterschiedlichen Lebenswelten auf einen Nenner bringen: Das erfordert Stärke und Durchhaltevermögen. Der Praxisalltag ist oft hierarchisch durchstrukturiert. Sie erzählen, dass manche Praxen einen Tag nach der Schule freigeben, andere von ihnen aber durcharbeiten müssen. Das finden sie ungerecht.
Die Gruppe unserer Fotomodelle ist zwischen 1988 und 2005 geboren und hat an Erstsprachen neben deutsch auch rumänisch, russisch und türkisch zu bieten. Einige von ihnen haben den berufsqualifizierenden Schulabschluss „mit Hängen und Würgen“ geschafft, für andere ist die Ausbildung eine Wartestation auf dem Weg zum Medizinstudium. Bei manchen ist fraglich, ob sie diese Ausbildung erfolgreich abschließen werden, andere müssen sehr hart dafür arbeiten, wieder andere durchlaufen die verkürzte Variante. Das Brutto-Durchschnittsgehalt einer MFA in Vollzeit beträgt in Deutschland derzeit monatlich ca. 2.808 €; das entspricht laut stepstone einem Stundenlohn von durchschnittlich ca. 17,55 €.
Michelle (Orthopädie, vorne Mitte) trägt eine hellblaue Trainingsjacke, die ihre Augen noch mehr zum Strahlen bringt. Nach kurzer Zeit übernimmt sie Gesines Angebot folgend die Kamera. Zum Fotografieren hat sie über ihren Vater einen Bezug. Sie koordiniert die Geschehnisse vor der Kamera mit freundlicher Zurückhaltung, bleibt aber dran und achtet genau z.B. darauf, dass alle sich beteiligen.
Angela (Neurologie, vorne links) hat Sommersprossen, die sie auf den ersten Blick unbekümmert wirken lassen. Zu diesem Eindruck trägt ihr buntes Sweatshirt bei, auf dem vorne Comicfiguren abgedruckt sind, die sich in einem Knäuel übereinander stapeln. Sie hat vier Kinder im Alter von 10, 11, 17 und 18 Jahren, erzählt sie mir – fast beiläufig. Ihre Lebenssituation verlangt ihr Managerqualitäten ab: So stellt z.B. die streng begrenzte Anzahl von Fehltagen in der Ausbildung, die sie sich mit ihren Kindern teilt, eine echte Herausforderung für sie dar. Dass es sich dabei für alle – ungeachtet ihrer Lebenssituation – um die gleiche, streng begrenzte Anzahl von Tagen handelt, findet sie nicht gerecht. Während unseres Gesprächs wird das Modell des Herzens gerade ins Bild gerückt. Bei dessen Anblick sagt Angela: „Das Herz ist mein Endgegner. Das war meine schlechteste Arbeit.“ Als ich zusammen mit Gesine fotografiert werden soll, protestiere ich: „Das passt so noch nicht mit meinen Haaren“. Angela sagt daraufhin zu Frau Gloistein-Tietjen: „Das ist die Zeit. Uns wird ständig gesagt, dass alle immer perfekt sein müssen“. Ihrer Klassenlehrerin, Frau Gloistein-Tietjen, attestiert Angela, dass sie für Probleme aller Art immer ansprechbar sein.
Hafize (Kardiologie, vorne rechts) hat sich erst spät für die Teilnahme am Fototermin entschieden. Unter den jungen Erwachsenen bleibt sie im Lauf des Vormittags die stillste – der ruhende Pol der Gruppe. Sie beteiligt sich an allen Aktionen, spricht von sich aus wenig und beobachtet das Geschehen um sich herum aufmerksam. Als wir über Bildungsgerechtigkeit sprechen, erklärt Hafize genau, welche besonderen Hilfsangebote es für Berufsschülerinnen und ‑schüler mit speziellen Bedarfen gibt, die z.B. sprachliche oder psychische Probleme haben. Sie habe das zwar selbst noch nie in Anspruch genommen, kennt sich aber sehr gut damit aus und hat dieses Wissen auch schon an Mitschülerinnen und Mitschüler im Bedarfsfall weiter gegeben.
Carina (hinten Mitte) wird von allen am liebsten fotografiert. Ihr Hobby ist tanzen, sie bewegt sich offensichtlich gerne – auch vor der Kamera. Dabei macht sie auch mal Quatsch, zum Beispiel steckt sie ihren Kopf in die große Öffnung des Modells vom menschlichen Herzen. Während ich sie beobachte, kommt mir das Wort „Klassenclown“ in den Kopf. Bei der abschließenden Runde Einzelporträts zeigt sie aber auch ihr ernstes Gesicht.
Can (Ophthalmologie, hinten, zweiter von links) hat als einziger männliche Vertreter in der siebenköpfigen Truppe einen Sonderstatus. Er buchstabiert mir auf Nachfrage des Wort „Ophthalmologie“ und erklärt mir, worum es sich dabei handelt. Zu Beginn wirkt er ein bisschen teilnahmslos, macht aber, nachdem er verschiedentlich z.B. von Michelle dazu angeregt wurde, alles mit. Als ein Gruppenbild arrangiert werden soll, will Can sitzen. Eine Mitschülerin sagt zu ihm: „Du bist groß und du bist jung. Außerdem bist du heute zu spät gekommen. Du stehst“. So wird es gemacht, wie man im Gruppenbild mit Herr sehen kann.
Finja (Kinderchirurgie und -urologie, hinten rechts) hat die Ausbildungszeit verkürzt auf zwei Jahre, das ist aufgrund ihres Abiturs möglich. Als die blonde, zurückhaltende und zierlich wirkende junge Frau mit Brille auf eigenen Wunsch zunächst mit dem Blutdruckmessgerät und dann mit dem Modell des menschlichen Knies fotografiert wird, sagen die anderen zu ihr: „Du gibst uns Chefarztvibes.“ Finja betont, dass es im ersten Jahr ihrer Ausbildung von Seiten der Berufsschule große Bemühungen gibt, alle Schülerinnen und Schüler, die mit sehr unterschiedlichem Vorwissen von überall her kommen, auf den gleichen Stand zu bringen. Das ist für sie ein Kennzeichen für eine bildungsgerechte Schule.
Ana-Maria (Ophthalmologie, hinten, zweite von rechts) hat lange dunkle Haare, einen Pferdeschwanz, einen ernsten Gesichtsausdruck und einen Plan: Es wirkt, als wählte sie alle ihre Worte mit Bedacht; sie verwendet davon auf keinen Fall zu viele. Sie beobachtet ihre Umgebung aufmerksam, auch die Fotografin, Michelle. Nach kurzer Zeit wendet sie sich ihr zu und sagt mit ernstem, aber freundlichen Tonfall zu ihr: „Das machst du gut“. Als ich sie und Finja frage, wie ein Blutdruckmessgerät funktioniert, fragt sie mit einem Augenzwinkern zurück:
„Möchtest du es so erklärt haben, wie es im Buch steht oder wie wir es machen?“. Sie zeigen mir dann beide Varianten. Ihren feinen Humor stellt sie auch mit ihrem hier gezeigten Einzelporträt unter Beweis.
Für die abschließende Runde von Einzelporträts fragt Gesine: „Wie sollen Porträts von euch in einer Ausstellung zu Bildungsgerechtigkeit sein?“. Die jungen Erwachsenen sagen: „Stark und klar“. Die letzte Runde Einzelporträts machen wir unter diesem Motto. Nachdem Michelle an der Reihe gewesen ist, sagt Ana-Maria: „Das war stark und klar und mächtig!“. Angela, die dabei zunächst ein bisschen schüchtern wirkt, wird von Michelle gelobt: „Sehr gut!“. Can sagt wie nebenbei, dass er nach der Ausbildung gerne Medizin studieren möchte. Wenig später lacht er und sagt, das sei nur Spaß gewesen. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt.
Im abschließenden gemeinsamen Gespräch über Bildungsgerechtigkeit heben die jungen Erwachsenen hervor, dass zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit besondere Hilfsangebote an ihrer Schule vorhanden sind und niedrigschwellig wahrgenommen werden können. Dazu gehören Extra-Nachhilfe, Deutschkurse und psychische Beratung („offenes Ohr“). Besonders betonten sie, dass es eine große Hilfsbereitschaft unter den Lehrkräften (die meisten davon „ganz lieb“) gibt, die niedrigschwellig für sie stets ansprechbar sind – und im Laufe ihrer Schulzeit an der BSW auch bleiben. Im anschließenden Gang durch die Schule führen sie uns zum Kiosk, wo die Brötchen ihrer Meinung nach zu teuer sind („Das ist ungerecht!“), in die Raucherecke (dort will allerdings keiner rauchend fotografiert werden – „Wir sind doch MFAs!“) und vor die Fassade des schönen alten Gebäudes in der Langen Reihe 81. Sie helfen uns anschließend, das Equipment einzuladen. Ich verlasse die Schule mit einem Gefühl von Respekt gegenüber den jungen Erwachsenen, die heute ihren Vormittag mit uns verbracht haben – obwohl sie sicher eine Menge Anderes zu tun hätten. Zukünftig werde ich MFAs in egal welchem Kontext mit einem anderen Blick sehen.