Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

Bildungsgerechtigkeit an den Berufsbildenden Schulen Sophie Scholl Bremerhaven (BSS)

Als eigenständiger Begriff ist Bildungsgerechtigkeit nicht im Leitbild der Schule verankert. Die dort enthaltenen Leitziele „Wir leben Schule“ und „Wir verstehen Verschiedenheit als Chance“ sind im Verständnis der Verantwortlichen an der Sophie allerdings entscheidende Schritte auf dem Weg zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit. An der Erstellung dieses Leitbildes war u.a. die Schülerschaft beteiligt; es wird von der großen Mehrheit des Kollegiums getragen, durch Fortbildungen im Bereich „Selbstkonzeptentwicklung“ (s.u.) fundiert und von den Mitgliedern der Schulgemeinschaft täglich gelebt, „auch mit allen Schwierigkeiten“. Für die Verantwortlichen bedeutet das u.a., die Jugendlichen, die hier ankommen, in ihrer Verschiedenheit zunächst differenziert wahrzunehmen und sie mit ihren spezifischen Lern- und Lebensbiografien anzunehmen. Die Schülerinnen und Schüler werden an der Sophie dann in äußerst heterogenen Lerngruppen bestmöglich gefördert und gefordert, mit dem übergeordneten Ziel, dass möglichst jeder und jede die Schule mit einem Plan für den nächsten Schritte auf seinem „Weg ins Leben“ verlässt, idealerweise mit einem Abschluss. Bildungsgerechtigkeit herstellen bedeutet für die Verantwortlichen, die Schülerinnen und Schüler, die lernfähig sind und höhere Abschlüsse erreichen wollen, von Seiten der Schule bestmöglich zu unterstützen. Das ist aber strukturell derzeit nicht in jedem Fall möglich, es wird u.a. verhindert dadurch, dass zu wenig Zeit zur Verfügung steht, um bis zu den Prüfungen den Lernrückstand aus der Sekundarstufe I aufzuholen. Hinderlich wirkt sich außerdem fehlende sonderpädagogische Unterstützung bei spezifischen Förderbedarfen aus.

Die BSS werden regelmäßig nach dem Prozentsatz der erfolgreichen Abschlüsse gefragt. Für die Verantwortlichen ist aber nicht diese Zahl der entscheidende Indikator für Erfolg, sondern wenn für jeden Jugendlichen ein (Berufs‑)Umfeld geschaffen werden kann, was zu ihm oder ihr passt: „Das ist für uns erfolgreich und bildungsgerecht“. Um diesem selbst gesteckten Erfolgsziel zu nahe wie möglich zu kommen, führt die Schule seit ca. vier Jahren selbst Kompetenztestungen auf unterschiedlichen Niveaustufen durch, in denen u.a. Fragen nach dem Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler eine wichtige Rolle spielen. In Teams werden die Ergebnisse der Testungen ausgewertet und individuelle Lernrückmeldegespräche mit der Schülerschaft geführt, deren konstruktiv-kritische Grundausrichtung darauf abzielt, Schülerinnen und Schüler zu stärken, indem sie zur Entwicklung eines positiven Selbstbildes beitragen. Es ist Standard in fast allen Klassen der Schule, nach den Herbstferien diese Gespräche zu führen und daraus individuelle Wege zu erarbeiten, auch wenn es vermeintlich keine „typischen“ schulischen und beruflichen Werdegänge sind. Oft erreichen die Jugendlichen über Umwege ein erstaunliches, von außen zunächst nicht für möglich gehaltenes Bildungs- und Berufsniveau.

Egal ob auf Umwegen oder auf direktem Weg: Die Sophie bietet den Schülerinnen und Schülern eine Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten an; einerseits geschieht dies mittels innerschulischer Ressourcen, „vor allem Zeit“.[1] Die Verantwortlichen an der Sophie versuchen sich so viel Zeit wie möglich für die einzelnen Jugendlichen zu nehmen um mit ihnen unter Zuhilfenahme eines breiten Spektrums an verschiedenen Maßnahmen für jeden und jede individuell den bestmöglichen Weg zu finden. „Auch wenn es manchmal anstrengend ist“, stellt das nach Meinung der Verantwortlichen einen entscheidenden Schritt zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit dar, der sich lohnt; darin werden sie bestärkt durch positive Rückmeldungen aktueller und ehemaliger Schülerinnen und Schüler aller Bildungsstufen. Auf diese Weise „wird Schule menschlich, das heißt nicht auf den Bildungsplan und den Abschluss reduziert“ (KH). Zeit und Gelegenheiten werden auch im Unterricht dafür benötigt, dass die Jugendlichen, die aus unterschiedlichen Kulturen kommen, voneinander lernen und dass auch ihre Lehrkräfte von ihnen lernen können. Wenn diese Lernprozesse in beide Richtungen stattfinden, liefert das einen wichtigen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Ebenso wie die Zeit, die eine Lehrkraft im Unterricht dafür aufbringt, etwas so lange und so gut zu erklären, „bis ein Jugendlicher sagt, dass er den Stoff jetzt endlich verstanden hat. Mit solchen Erfolgserlebnissen platzt dann oft der Knoten und es sind noch viel mehr Dinge möglich“ (CL).

Um die Möglichkeitsräume für die Jugendlichen zu erweitern, spielen an der Sophie zudem AUSSERSCHULISCHE ANGEBOTE eine wichtige Rolle, von denen nachfolgend eine Auswahl vorgestellt wird. Sie werden oft in Kooperation mit externen Partnern realisiert, „denn Bildung geschieht ja nicht nur in der Schule, sondern auch über die Schule hinaus“ (KH). Ein Beispiel dafür bietet das EU-geförderte Projekt „Deutsch im Beruf“, das in Zusammenarbeit mit dem Pädagogischen Zentrum e.V. in der Hafenstraße realisiert wird und für das die Sophie Modellschule ist. Das Angebot richtet sich an Auszubildende mit Migrationshintergrund verschiedener Berufsfachschulen und besteht in vier Wochenstunden zusätzlichem Deutschunterricht an der Schule plus weiteren Stunden im Pädagogischen Zentrum. Die Teilnehmenden werden sehr engmaschig betreut; es wird z.B. Kinderbetreuung angeboten für diejenigen, die Familie haben. Die Idee hinter diesem Konzept für Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Ausbildung ist, dass diese, trotz erschwerter Bedingungen durch mangelnde Deutschkenntnisse, ihren Abschluss schaffen. Ein weiteres Beispiel ist der Senioren-Expertenservice im Programm VerA;[2] bei diesem Angebot handelt es sich um eine ehrenamtliche, freiwillige und kostenlose Ausbildungsbegleitung der Auszubildenden durch Seniorinnen und Senioren, die ihr Leben lang in einem Beruf gearbeitet haben, der als Ausbildung auch an der Schule angeboten wird. Sie unterstützen die Auszubildenden dabei, die Ausbildung erfolgreich zu absolvieren. Die jeweils individuelle Förderung wird durch die Schulsozialarbeiterin vermittelt und funktioniert in der Regel sehr gut. Ein weiterer externer Kooperationspartner ist das Stadttheater Bremerhaven, über das den Jugendlichen Erfahrungen mit dem und im Theater angeboten werden, die von Zuhause aus oft nicht möglich sind; aus mangelndem Interesse oder weil die finanziellen Möglichkeiten dafür nicht ausreichen. Hierzu gehören Theaterbesuche ebenso wie mehrtägige Theaterprojektfahrten, die es bereits in etlichen Klassen gab, oft unterstützt von Arbeit und Leben Bremerhaven, einer gemeinnützigen Einrichtung für Erwachsenenbildung (vgl. Arbeit und Leben Bremerhaven 2024).

Ob und ggf. wie diese Maßnahmen zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit wirken, wird systematisch nicht erfasst. Zwar werden beispielsweise im EU-Programm „Deutsch im Beruf“ Validierungen durchgeführt, in deren Rahmen die Zahl der erfolgreichen Abschlüsse regelhaft registriert wird. Das stellt für die Verantwortlichen an der Sophie aber nur einen Indikator für Wirksamkeit dar. Um komplementär zu diesen Zahlen die Maßnahme zu beurteilen, gab es schulseitig eine Umfrage unter den Teilnehmenden, wie oft sie das Angebot nutzen und wie sie die Fortschritte für sich einschätzen. So konnte mehr darüber herausgefunden werden, ob die am Programm beteiligten Schülerinnen und Schüler an einen Abbruch von Schule oder Ausbildung denken, ob sie mit dem programmseitigen Angebot und der Unterstützung durch die Schule dann doch weiter machen oder einen anderen (Bildungs‑)Weg beschreiten. Die Lebenswege der Jugendlichen nicht nur in diesem Programm sind sehr unterschiedlich, die Verantwortlichen bedauern, dass schulseitig nicht die Möglichkeit einer „Verbleibs-Abfrage“ besteht. In Einzelfällen sind ihnen Erfolgsgeschichten bekannt von Schülerinnen und Schülern, die später ein Studium beginnen oder von der Berufsorientierungsklasse über die Abendschule zurück an die Sophie kommen, um hier beispielsweise die Fachschule zu besuchen. Auszubildende kommen in Einzelfällen auch zurück an die Schule, in solchen Fällen wird sichtbar, dass und wie die Maßnahmen greifen. Für die Schulsozialarbeit bedeutet Erfolg im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit, dass die Beratung nicht aufhört, wenn die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen die Sophie verlassen. Vielmehr können sie sich auch weiterhin an die Beratungsstelle wenden – und machen das in nicht wenigen Fällen, auch dann, wenn sie in eine Berufsausbildung an anderer Stelle starten. Ein erfolgreicher Abschluss der an der Sophie verbrachten Zeit sowie sowie Rückmeldungen ehemaliger Schülerinnen, Schüler und Auszubildender sind „ein Zeichen für wirksam gewordene Bildungsgerechtigkeit“ (UMB). Sie gibt zu bedenken, dass die Schule oft natürlich „nur“ Rückmeldungen von „besonderen Persönlichkeiten“ bekommt. Aus ihrer Sicht wäre es sehr interessant zu erfahren, wie viele Abgängerinnen und Abgänger tatsächlich ihre Träume und Wünsche realisieren können.