Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

Bildungsgerechtigkeit an der Heinrich-Heine-Schule (HHS)

Bildungsgerechtigkeit gehört zu den Leitzielen der HHS und bedeutet, dass alle Kinder gleiche Zugänge und Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung erhalten. Dass das „unrealistisch und nicht zu 100% umzusetzen ist“, ist den Verantwortlichen bewusst; das hält sie aber nicht davon ab, sich diesem für die Schule bedeutsamen Ziel graduell bestmöglich und kontinuierlich anzunähern. Der Umstand, in welche Familie ein Kind hineingeboren wird, hat noch zu viel Einfluss auf die weiteren Chancen eines Kindes im Leben. Das gilt für ganz Deutschland, aber in besonderem Maß für Bremerhaven und Städte mit vergleichbarem sozio-strukturellen Portfolio, davon ist Meike Ehler überzeugt. Das ist nicht gerecht; um hier Abhilfe zu schaffen und die Bildungsgerechtigkeit zu erhöhen, strebt die HHS danach, jedes Kind auf seinem individuellen Weg bestmöglich zu begleiten – was nicht bedeutet, dass Kinder, die von Zuhause aus bessere Chancen haben, weniger oder gar nicht unterstützt werden. Jedes Kind soll aus dem, was es mitbringt und mit dem, was die Schule noch dazu beitragen kann, das Beste machen können. Ein wichtiges Zwischenergebnis auf diesem Weg ist, dass nahezu alle Kinder, die die HHS verlassen, wissen, welches nächste Ziel sie mit dem folgenden Schritt in ihrer Entwicklung anstreben – das gilt insbesondere auch für die zwei bis drei Jugendlichen, die pro Schuljahr die HHS ohne Abschluss verlassen. Schulverweigerung ist ein „eher seltenes“ Phänomen an der HHS. 30% der Schülerschaft gehen im Anschluss an ihre Zeit an der HSS weiter in die gymnasiale Oberstufe, die nicht vor Ort ist.

Die Missstände, die die Gestaltung einer bildungsgerechten Schule erschweren, werden immer größer. Problemfelder und damit für die Schule verbundene besondere Herausforderungen nehmen aktuell weiter zu; dazu gehören an der HHS beispielsweise Autismusspektrumstörungen, psychische Krankheiten, auditive Wahrnehmungsstörungen und Mehrfachbelastungen/-behinderungen. Ablesbar ist dies u.a. an der Zahl der Kinder mit diagnostiziertem Assistenzbedarf; derzeit sind es an der HHS 26, vor sieben Jahren waren es höchstens drei bis vier. Auch das Sprach- und Leseniveau stellt in vielen Fällen eine besondere Herausforderung dar. So hat eine wachsende Anzahl an Kindern eine Lese-Rechtschreibschwäche, 60% von ihnen hat eine andere Herkunftssprache als Deutsch. Oft sind Eltern mit diesen Herausforderungen (komplett) überfordert, unabhängig von der finanziellen Lage der Familien.

Wichtige Schritte auf dem Weg zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit an der HHS, von der alle Schülerinnen und Schüler direkt profitieren, sind neben dem Klassenlehrerprinzip (s.u. Fokus: Gesehen werden) die nachfolgend beschriebenen Aspekte Versorgung, Rhythmisierung des Schulalltags sowie Digitalisierung.

In den Jahrgängen fünf bis sieben ist der gebundene Ganztag für alle verpflichtend; es gibt in diesen Jahrgangsstufen keine Hausaufgaben, denn diese vergrößerten an der HHS die Kluft zwischen Kindern, die Zuhause keine Unterstützung haben, und denen, die vom Elternhaus gefördert werden. Diese Erfahrung der Erhöhung von Bildungsungerechtigkeit verstärkte sich in der Corona-Pandemie; durch die anwachsende Kluft wurde auch der Unterricht immer schwieriger. Inzwischen haben diejenigen, die dem Konzept des gebundenen Ganztags an der HHS zunächst skeptisch gegenüberstanden, erkannt, dass der Unterricht dadurch reibungsloser laufen kann. Im teamorientierten Unterricht soll den Kindern in den ersten drei Jahren an der HHS nach und nach selbstständiges Erarbeiten und Lernen beigebracht werden, so dass ab Jahrgangsstufe acht Hausaufgaben, die zu bewältigen sind, aufgegeben und die auch erledigt werden. Das Modell des gebundenen Ganztags ermöglicht es auch, dass Förder- und Forderangebote, die früher nachmittags stattfanden und eher mäßige Akzeptanz erfuhren, inzwischen in den Tag integriert und genauer differenziert werden. So gibt es in der Unterstufe beispielsweise in Deutsch und den Naturwissenschaften inzwischen auch Angebote für Kinder, die über Regelstandard liegen. Die Schule wird im kommenden Schuljahr ein Leseband für die Jahrgangsstufen fünf und sechs im Rahmen des Ganztags etablieren. Darin besteht ebenfalls ein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit, denn vielen Kindern wird heutzutage wenig vorgelesen bzw. wird zu wenig mit ihnen gelesen. Kinder kennen kaum noch Märchen, eventuell Geschichten, die verfilmt wurden. Diese Situation lässt sich für alle Kinder im Rahmen eines Lesebands ändern bzw. verbessern. Schon jetzt hat das Modell des gebundenen Ganztags aus Sicht der Verantwortlichen spürbar dazu beigetragen, die zuvor deutlich zunehmenden Konzentrationsschwierigkeiten in den Jahrgangsstufen fünf und sechs besser in den Griff zu bekommen.

Mit der Rhythmisierung des Schulalltags wurde auch die Versorgung der Kinder neu geordnet. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler aus dem Stadtteil kommt ohne Frühstück zur Schule. Diese Herausforderung ist derzeit noch nicht zufriedenstellend gelöst; perspektivisch soll von der Schule ein Frühstücksangebot gestellt werden. Es gibt aktuell täglich eine Ankommenszeit von 15 Minuten, in der die Schülerinnen und Schüler selbst mitgebrachtes Frühstück zu sich nehmen. Hier ergibt sich für die Schule aktuell die Schwierigkeit, mit den Schülerinnen und Schülern angemessen umzugehen, die wenig oder nichts zum Frühstück dabei haben. Das liegt nicht immer an der finanziellen Ausstattung des Elternhauses; auch Kinder aus wohlhabenderen Familien bringen teilweise nichts, wenig „oder eine Tüte Chips“ zum Frühstück mit. Es war den Verantwortlichen an der HHS vor diesem Hintergrund ein Herzensanliegen, ein warmes, frisch gekochtes Mittagessen inklusive Salatbar und Nachtisch für alle kostengünstig anbieten zu können. Dieses Etappenziel ist erreicht: Inzwischen gibt es um 11.30 Uhr Essen für die fünften Klassen, um 12.00 Uhr für die sechsten Klassen und um 12.30 Uhr für die sieben Klassen (jeweils 110 Personen). Nach dem Mittagessen gibt es eine aktive Pause, danach folgt wieder Unterricht oder andere Angebote bis 15.00 Uhr, freitags bis 14.00 Uhr. Das Mittagessen ist verpflichtend für die Jahrgangsstufen fünf bis sieben, kostet 25,00 Euro pro Monat im Abo und wird von der Stadt mitfinanziert. Ab Jahrgangsstufe acht können sich die Kinder täglich für 1,50 Euro pro Mahlzeit zum Mittagessen anmelden. Kinder mit dem Status „Bildung und Teilhabe“ zahlen nichts. Auf dem Weg zur klimaneutralen Schule wird wöchentlich einmal Fisch bzw. Fleisch angeboten und insgesamt sehr auf gesunde Ernährung geachtet.

Die Schule ist sehr weit, was das Thema Digitalisierung betrifft. Alle Kinder und Jugendlichen haben ein iPad und einen iPad-Stift. Alle Klassenräume sind digital ausgestattet, in den Kernfächern Deutsch und Englisch wird komplett mit digitalen Lehrwerken gearbeitet. Durch Sponsoring konnte für jede Klasse ein Notfallequipment angeschafft werden, zu dem Kopfhörer, Powerbanks, extra Ladekabel, extra Stifte und weitere Ausstattungsgegenstände gehören. Digitale Angebote und Möglichkeiten öffnen Räume und können damit zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen. Das gilt z.B. für digitale Übersetzungsprogramme für ukrainische Schülerinnen und Schülern, die sich besonders in den höheren Klassen, wenn es auf den Abschluss zugeht, als sehr hilfreich erweisen haben. Die Schule tastet sich gerade an KI heran. Es herrscht im Kollegium große Aufgeschlossenheit gegenüber dem Thema, das beispielsweise für die Adaptierung von Unterrichtsmaterialien auf unterschiedliche Niveaus große Chancen bietet: „Hier muss die Schule offen sein und mitlernen“.

Das Prinzip der „Schule für alle“ nimmt insbesondere auch die Kinder und Jugendlichen in den Blick, die dem Regelunterricht im Klassenverband temporär nicht angehören. Die nachfolgend erläuterten drei Maßnahmen (Brückengruppe, ALG und Mini-Auszeitmodell) verdeutlichen einen Fokus im Verständnis von Bildungsgerechtigkeit an der HHS: Jedes Kind ist wichtig und bekommt Aufmerksamkeit, die Verantwortlichen kümmern sich und merken, „was wirklich los ist“.

So werden Kinder mit großen Problemen aus Jahrgangsstufe fünf und sechs, für die Unterricht im Klassenverband für eine gewisse Zeit nicht in Frage kommt, in der sog. Brückengruppe von einer Sonderpädagogin und einem Sozialarbeiter betreut und beschult; das sind derzeit ca. acht Kinder. Es findet dort sehr viel soziale Interaktion statt und eher wenig Beschulung im klassischen Sinn. Teilweise sind Kinder stundenweise dabei und teilweise im Klassenverband, andere Kinder kommen nur wegen dieser beiden Brückenstunden an die Schule. Den Kindern, die unter anderen Bedingungen durch das Raster fallen würden, wird an der HHS auf diese Weise vermittelt, dass sie gesehen werden und Unterstützung erfahren. Das Pendant für die höheren Jahrgangsstufen, in die auch Schulverweigerer aus anderen Schulen kommen, ist die sog. alternative Lerngruppe (ALG), die es seit ca. 1,5 Jahren gibt. Die Gruppe wird vom stellvertretenden Schulleiter, Andreas Armbrecht, betreut, der auch Sonderpädagoge ist und zunächst mit den Jugendlichen erarbeitet, was diese eigentlich wollen, um anschließend passende Maßnahmen mit ihnen in die Wege zu leiten. Dazu gehören z.B. Praktika, Berufsausbildungen ohne Schulabschluss sowie die Wiedereingliederung in das Schulsystem. Diese Maßnahme bindet zwar hohe personelle Ressourcen für vergleichsweise wenige Schülerinnen und Schüler, sie gestaltet sich aber erfolgreich, da die Beschulung dieser Kinder und Jugendlichen im Regelverband für alle belastend wäre und „auf’s Ganze gesehen“ letztlich mehr Ressourcen binden würde. Kinder und Jugendliche, die aus welchen Gründen auch immer tageweise nicht am Unterricht teilnehmen können, haben die Möglichkeit nach Absprache oder auf Anraten der Lehrkraft bzw. anderer Verantwortlicher beim Schul-Sozialarbeiter eine Tages-Auszeit nehmen. Diese Maßnahme (Mini-Auszeitmodell) soll die Ausnahme bleiben. Wenn so etwas häufiger passiert, reagieren die Verantwortlichen im Team mit pädagogischen Konferenzen unter Beteiligung von Eltern und Schülerinnen bzw. Schülern, „um zu schauen, was getan werden kann“.

Bei der systematischen Evaluation der geschilderten Maßnahmen steht die Schule noch am Anfang, deswegen liegen dazu noch keine konkreten Zahlen vor. Die Schulleiterin hält es ohnehin für problematisch, den Erfolg von Schule mit den Standard-Instrumenten der Lernstandskontrollen zu beurteilen, bei denen Bremerhaven in der Regel Schlusslicht im bundesdeutschen Vergleich ist („Was sagt eine Note über ein Kind aus?“). Vielmehr muss ihrer Meinung nach danach geurteilt werden, womit die Kinder an der HHS starten und womit sie die Schule verlassen. Die HSS nimmt seit vielen Jahren regelmäßig an KESS und LALE teil. Die Ergebnisse sind wichtig, um nah am Kind zu bleiben und Entwicklungsschritte zu dokumentieren und zu kommunizieren. Wenn sich herausstellt, dass Kinder innerhalb eines Zeitraums von einem bis zwei Jahren spürbare Lernfortschritts gemacht haben, ist das ein großer Erfolg und viel wichtiger für die Schule als der bundesweite Vergleich. Durchschnittswerte haben an der HHS nur dahingehend Aussagekraft, um zu eruieren, ob Lernfelder innerhalb einer Klasse ggf. noch zusätzlich bearbeitet werden müssen. Das ist eher selten, da die Schule prioritär auf Individualebene Forder- und Förderkonzepte für jedes Kind bzw. jeden Jugendlichen erstellt. Ergebnisse von Lernstandsproben wie LALE oder KESS werden mit Eltern und Schülerinnen bzw. Schülern individuell besprochen und nicht im Kontext des Gesamtergebnisses. Das bildet die Basis für die kontinuierliche gemeinsame Arbeit; auf diese Weise können Kinder und Jugendliche eine mittel- und langfristige Perspektive entwickeln. So verlassen bis auf zwei oder drei Ausnahmen alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs in der Regel die HSS mit einem Abschluss oder einer festen weiteren Perspektive verlassen.

Dass die Umsetzung der geschilderten Maßnahmen in der Wahrnehmung der Verantwortlichen gelingt, ist auf ein gut zusammenarbeitendes Leitungsteam zurückzuführen und auf ein Kollegium, das sich – bis auf wenige Ausnahmen – dem Motto „Eine Schule für Alle“ und damit dem Thema Bildungsgerechtigkeit verpflichtet fühlt. Auf diese Weise wird der Entwicklungsprozess der Schule in seinen vielfältigen Belangen getragen.