HHS Fokus – Gesehen werden
Zentraler Baustein des pädagogischen Konzeptes „Eine Schule für alle“ ist das Klassenlehrer-Prinzip, das die Klassenleitung für die Schuljahre fünf bis zehn durchgängig in einer Hand vorsieht. Da die Verantwortlichen an der Schule davon ausgehen, dass das Lernen nur funktionieren kann, wenn es eine vertrauensvolle und positive Bindung zwischen Schülerin bzw. Schüler und Lehrkraft gibt, findet möglichst viel Unterricht mit der Klassenlehrkraft statt. Neben einem Hauptfach unterrichten diese noch mindestens ein Nebenfach und leiten den sog. teamorientierten Unterricht. Letzteres ist ein fächerübergreifender Unterricht in Geschichte, Politik, Geographie, Religion und WAT (Wirtschaft, Arbeit, Technik), in dem der Schwerpunkt u.a. auf sozialem Lernen und Berufsorientierung liegt. In den höheren Jahrgängen sind im teamorientierten Unterricht die Praktikumsbetreuung oder Projektarbeiten angesiedelt. Auf diese Weise wird die Kontaktzeit zwischen Schüler bzw. Schülerin und Klassenlehrkraft maximiert und dieser Zustand über die Höchstdauer der gesamten Schulzeit aufrecht erhalten. Die Lehrkräfte können bei engerer Bindung zur Schülerschaft auch das private Umfeld der Kinder besser wahrnehmen sowie bei Missständen unterstützen und ggf. eingreifen.
Durch Ressourcenmangel, Personalwechsel und weitere Herausforderungen ist die angestrebte Kontinuität bei den Klassenlehrkräften nicht immer zu 100 Prozent möglich. Die Verantwortlichen an der HSS beobachten, dass es in den Klassen, in denen die Klassenlehrkraft gewechselt hat, mehr Unruhe und Schwierigkeiten gab und gibt. Durch die hohe Anzahl an teamorientierten Stunden kann aber flexibel und situationsbedingt an aktuellen Herausforderungen gearbeitet werden. Jüngstes Beispiel ist ein religiöser Konflikt zwischen zwei muslimischen Schülerinnen, die von den Jungen in der Klasse wegen ihrer Verschleierung offen kritisiert wurden. Die Jungen kommen aus der sehr konservativen christlichen Gemeinde. Die Klassenlehrkraft setzte in dieser Klasse kurzfristig das Thema Toleranz und Religion auf den Unterrichtsplan und damit ein wichtiges Signal für die beteiligten Schülerinnen, denen vermittelt wird, dass die Verantwortlichen an der Schule sie im Blick haben und sie dort mit ihren Anliegen ernst genommen werden.
Das geschieht vor dem Hintergrund, dass sich viele Eltern an der HSS– unabhängig von ihrer finanziellen Ausstattung – im Gegensatz zu früher „nicht mehr wirklich um ihre Kinder kümmern und keine Lust (mehr) haben, sich mit ihnen und dem was sie brauchen auseinanderzusetzen“. Diese Kinder und Jugendlichen werden häufig mit vielen oder allen materiellen Dingen versorgt, nicht aber mit echtem Interesse, Zuwendung und Aufmerksamkeit bedacht. In anderen Worten: „Sie werden nicht gesehen“. Es werden oft keine Alltagsthemen in den Familien besprochen, was z.B. daran ablesbar ist, dass Kinder Maßeinheiten wie 1/2 l nicht kennen oder bestimmte potentiell schwierige Themen in den Augen der Eltern auch im Unterricht nicht besprochen werden sollen (z. B. Krieg und Sexualität). Die Kinder und Jugendlichen fühlen sich in diesen Fällen alleine gelassen und nicht ernst genommen, was außerordentliche Auswirkungen auf ihr Lernverhalten und ihre Motivation hat; in manchen Fällen entwickeln sie eine „Null-Bock-Haltung“ („Wohlstandsverweigerer“). Von der Schule erwarten viele Eltern, dass diese das alles und mehr regelt; wenn Leistungen und Resultate nicht stimmen, werden teilweise sogar Anwälte hinzugezogen („U-Boot-Eltern“). Auf der anderen Seite gibt es Eltern, die ständig präsent sind und ihr Kind bei allem (auch unberechtigt) in Schutz nehmen. Das ist im Vergleich zu anderen Schulen mit ähnlichem Einzugsgebiet an der HHS eher ungewöhnlich.
Bildungsgerechtigkeit bedeutet vor diesem Hintergrund für die Verantwortlichen an der HSS, Kinder in ihren Problemlagen ernst zu nehmen, die Eltern dabei nach Möglichkeit mitzunehmen und nach Möglichkeit gemeinsam genau hinzuschauen, was die Kinder brauchen und wie sie bestmöglich begleitet und gefördert werden können, damit sie sich für das Lernen öffnen und motiviert werden können.