LOGBUCH Fotoshooting Heinrich-Heine-Schule (HHS)
Bremerhaven Leherheide
04.06.2024, 8.30-11.30h
Inmitten von Plattenbauten und einer Hochhaussiedlung hätten wir den im Vergleich eher flachen Bau der HHS zunächst fast übersehen. Einmal angekommen, finden wir eine großes, weitläufiges, offen und aufgeräumt wirkendes Schulgelände vor. Weder die Sekretärin noch die Leitung des Zentrums für Unterstützende Pädagogik (ZUP) wissen Bescheid, helfen aber sofort. Wir finden zusammen heraus: Zuständig ist Herr Schröder, ein ziemlich dynamisch wirkender Lehrer für Mathe und Wirtschaft, der wenig später wie aus dem Nichts auftaucht und zwei Schülerinnen sowie einen Schüler aus „seiner“ achten Klasse mitbringt, in der er Klassenlehrer ist: Anastasia, Lilijana und Leo. Auf der Suche nach einem geeigneten Ort für das Fotoshooting landen wir schließlich im Sport- und Bewegungsraum in einem der vielen Nebengebäude. Hier räumen wir gemeinsam erstmal Sportgeräte, Seile, einen Boxsack und Matten beiseite, um ausreichend Platz für die Popup-Leinwand zu schaffen.
Da kommen Matteusz und Alina zur Gruppe dazu, die beide Teil der alternativen Lerngruppe (ALG, s.o.) sind. Das ist an der HHS ein Setting für Kinder und Jugendliche, die nicht in die Regelklassen gehen können. Alina zum Beispiel hat psychische Probleme. In der achten Klasse hat sie sich zurückstellen lassen und wollte eigentlich alles nachholen. Jetzt ist sie in der alternativen Lerngruppe geblieben. Dort machen sie praktische Sachen, „die so anfallen“. Sie hat zum Beispiel eine Inventur gemacht für die Küche. Ihr Freund Matteusz hat schon verschiedene Wände und Flächen an der Schule gestrichen, die zeigt er mir später stolz bei einem Rundgang. Als er darüber berichtet, wirkt er plötzlich sehr wach und fokussiert. Auch ohne Schulabschluss hat er ab dem 01.08. eine Ausbildungsstelle bei einem Malerbetrieb in Lehe. Alina strebt diesen Weg auch an; heute begleitet sie ihren Freund, stellt aber schnell klar, dass sie nicht mit aufs Foto möchte. Mit dem hier abgebildeten Doppelporträt, in dem er sie auf dem Rücken trägt, haben sich beide einverstanden erklärt.
Mit den beiden ergibt sich ein längeres Gespräch, während die anderen mit letzten Vorbereitungen beschäftigt sind. Alina und Matteusz sind beide 16 Jahre alt. Ich frage: „Geht ihr zur Europawahl am Sonntag?“. Matteusz antwortet: „Echt jetzt? Warum?“. Alina weiß es noch nicht, bemerkt aber: „Wenn wir AfD wählen würden, werden wir erstmal selbst alle abgeschoben“. Matteusz, so vermutet sie, würde nach Polen abgeschoben, dort ist er geboren und nach wie vor in den Ferien manchmal da; sie selbst nach Russland. Alina ist da nie mehr, auch wegen dem Krieg, sagt sie. Ihre Familie lebt überall verstreut: Tschechien, Kasachstan, Russland, Österreich Deutschland.
Aus ihrer Gruppe kommt noch Felix dazu. Ab da wird es ziemlich unruhig im Raum. Er ist ständig in Bewegung und steckt mit dieser Ruhelosigkeit auch die anderen an – keine gute Voraussetzung für ein Fotoshooting. Er möchte fotografiert werden, allerdings am besten sofort und nur zusammen mit seinem Freund; der Plan wurde zu einem späteren Zeitpunkt dann tatsächlich auch realisiert (siehe das Doppelporträt der beiden auf der Fotoquartettseite unten rechts). Ich frage ihn, was er heute so macht, in der Schule und auch sonst so: „Nichts“, sagt er. „Immerhin bin ich hier“. Es geht ihm nicht schnell genug, er kann sich auf uns und das Setting in der kurzen Zeit nicht einlassen. Zuerst beschäftigt er sich noch mit dem Boxsack und mit anderen Geräten und Gegenständen im Bewegungsraum. Als das nicht mehr ausreicht, müssen wir ihn vor die Türe bitten und mit den anderen alleine weiter arbeiten, weil sonst für die gemeinsame Arbeit an den Fotos keine ausreichende Konzentration möglich ist. Das kommt zum ersten (und zum letzten) Mal bei unseren Fotoshootings vor; der Zwischenfall beschäftigt mich („Wie ist das mit der Aufsichtspflicht?“, „War ich zu unfreundlich zu ihm?“ Diese und weitere Fragen stellt sich die Lehrerin in mir). Nach einiger Zeit gehe ich kurz raus und finde ihn im Treppenhaus sitzend. Er fragt, ob er wieder mit reinkommen kann, ich sage ja; ab dann klappt es – und dann kehrt Ruhe ein, mit Felix.
Nach einem Start, der sich wegen der zunächst langwierigen Suche nach und Vorbereitung einer geeigneten Location sowie der Unruhe etwas holprig gestaltete, läuft es ab jetzt einfacher. Im die Aufnahmen begleitenden Gespräch erzählen uns Leo, Anastasia oben rechts) und Lili von ihrer Klasse, die aus 23 Schülerinnen und Schülern besteht: „Wir sind alle sehr verschieden. Wir denken anders, wir handeln anders, wir tun andere Dinge. Wir reden anders, manche reden asozial, manche eher fachlich. Manche würden AfD wählen, andere nicht. Trotzdem sind wir eine Klasse, eine Gemeinschaft. Wir verstehen uns in der Klasse nicht gut, aber wir haben trotzdem einen guten Zusammenhalt“. In ihrer Klasse ist es ganz schön unruhig erzählen sie, vor allem, wenn Herr Schröder nicht da ist. Zwei von ihren Klassenkameraden nerven sich so lange, bis sie regelmäßig an einander geraten und sich prügeln. Wir merken das gar nicht mehr, sagt Lili. Sie ist ebenso wie Leo und Anastasia in Deutschland geboren, ihre Familien haben wie die fast aller ihrer Klassenkameraden Herkunftsländer in ganz Europa und darüber hinaus. In ihrem Fall sind das Polen, Portugal und Russland.
Leo will mal Forensiker werden, das ist sein Berufswunsch schon seit vielen Jahren; er interessiert sich sehr für Naturwissenschaften. Anastasia „kann sich gut vorstellen, später mal mit Zahlen was zu machen“; ihr Berufswunsch ist Bankkauffrau. Darauf bereitet sie sich mithilfe schulischer Angebote vor, zu denen u.a. Praktika gehören. Lilijana interessiert sich für Kultur und Medizin; sie weiß noch nicht genau, in welche Richtung ihre Reise gehen soll. Gerecht findet sie, dass man sich an der Schule anziehen kann, wie man will und dass alle hier „die gleichen Möglichkeiten haben: Lernen ist hier für alle möglich, es gibt dafür so viel verschiedene Angebote“. Ungerecht finden die drei, dass Handys komplett verboten sind während der Schulzeit. „Das hat gar nichts gebracht“, sagt Leo: „Jetzt gehen alle aufs Klo, rauchen dort und machen Handy“. Er würde Handys in den Pausen erlauben, dann wäre das nicht so ein Thema – davon ist er überzeugt.
In den höchsten Tönen sprechen die drei von ihrem Klassenlehrer, Herrn Schröder. Er ist die meiste Zeit beim heutigen Fotoshooting abwesend, weil er mit anderen Dingen beschäftigt ist. Für sie ist er derjenige, der ihnen bei allem hilft und sich um sie kümmert, erfahren wir. Er versteht sie, und hat sie im Blick, ihre Hausaufgaben ebenso wie ihre persönlichen Schicksalsschläge.
So kommt es, erzählen sie uns, dass ihre Klasse politisch ziemlich aktiv ist: „Das ist alles wegen Herrn Schröder“. Aktuell verantworten sie das Wahlprojekt zur Europawahl für die ganze Schule, nach dem Fotoshooting werden sie zurück in ihre Klasse gehen, in der sie heute mit den letzten Vorbereitungen beginnen. Im Projekt geht es darum, erstmal selbst die Grundlagen der Europawahl zu verstehen und dann anderen das Wahlprozedere, den Wahlomat, Grundsätze einiger politischer Parteien sowie weitere Grundlagen zu erklären. „Wir haben auch das mit der Klimaschule für unsere Schule gemacht“, erzählen sie. „Das war, na ja, … im Grunde auch wegen Herrn Schröder“. Sie erzählen uns, dass sie schon in Bremen im Parlament waren: einige haben da gearbeitet, z.B. Leo, dessen Gruppe mit einem Abgeordneten Vor- und Nachteile von E-Rollern in Bremerhaven diskutiert hat. Andere Gruppen haben einen Film gedreht und Fotos gemacht.
Mit dieser Vorgeschichte sind wir jetzt sehr gespannt, Herrn Schröder ein bisschen näher kennen zu lernen. Zum Glück ergibt sich dafür die Gelegenheit gegen Ende des Vormittags, als er, wie versprochen, nochmal vorbei schaut und tatsächlich etwas Zeit mitgebracht hat. Wir erfahren, dass er Mathematik und Wirtschaft in Bremen studiert hat und „eigentlich nie Lehrer werden wollte“. Sein Vater und seine Schwester machen das nämlich auch. Irgendwie habe er dann doch ganz gut gefunden, „wie das in Bremerhaven läuft“ und ist in der Seestadt schließlich über den Seiteneinstieg verbeamtet worden. Die jetzige achte Klasse begleitet er als Klassenlehrer seit der sechsten Klasse und wird sie bis zum Abschluss in Klasse zehn weiterführen. Da er sich zunehmend in der Schulentwicklung engagiert, wird er dann nicht mehr genug Stunden haben für eine neue Klassenleitung – das bedauert er schon jetzt. Seiner Meinung nach wird Bildungsgerechtigkeit bisher nicht umgesetzt, da es nicht oder nur unzureichend gelingt, Bildungserfolg vom Elternhaus abzukoppeln. Versuche an der Schule wie Materialien und Essen zu stellen und Hausaufgaben durch den gebundenen Ganztag („das heißt nicht, weniger zu arbeiten, sondern alle zu denselben Bedingungen“) zu ersetzen, wertet er als wichtige Schritte auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Die Schülerinnen und Schüler sprechen weiter in den höchsten Tönen von ihm, es macht keinen Unterschied, ob er im Raum ist oder nicht. Herr Schröder sagt: Respekt kann nur erwarten, wer ihn vorlebt. Außerdem mag er das Wort nicht. Von Schülern kann man nicht erwarten, was man ihnen nicht vormacht, da ist sich Jakob Schröder sicher.
Wir räumen anschließend zusammen auf und verlassen die Schule mit der Gewissheit, dass man Spannungen so unaufgeregt wie professionell aushalten kann und klare Ansagen dafür ziemlich hilfreich, wenn nicht sogar unabdingbar sind.
