Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

HBG – Logbuch Fotoshooting

06.06.2024, 09.00-13.00h

Es ist mit den teilweise engen Einbahnstraßen, Straßenbahnschienen und einer Dreißigerzone rund um das HBG-Areal ganz schön schwierig, an diese Schule mit dem Auto ranzukommen. Wir parken den VW-Bus schließlich auf einem ziemlich engen Parkplatz neben der Feuerwehrzufahrt des altehrwürdigen Schulgebäudes und sind nicht ganz sicher, ob das erlaubt ist – dieses Gefühl der leichten Verunsicherung, ob wir uns angemessen verhalten, wird uns im Laufe des Vormittags erstmals bei einem Fototermin erhalten bleiben. Die Atmosphäre beim Betreten des Gebäudes ist so, dass man als Besucher automatisch erstmal die Stimme senkt. „Das fühlt sich hier an wie Hogwarts“, sagt Gesine mit tiefer Stimme. Ich weiß sofort, was sie meint. Wir schreiten vorbei an Erläuterungsplaketten zum Namensgeber der Schule und treffen im eindrucksvollen Treppenhaus Matthias Myrczek, den Fachbereichsleiter Gesellschaftswissenschaften. Das Gebäude ist denkmalgeschützt, erzählt er uns, und Veränderungen deshalb ganz schön aufwändig bzw. unmöglich. Als im letzten Jahr draußen eine der Lampen kaputtgeschlagen worden war, konnte man die z.B. nicht einfach durch eine neue ersetzen, denn: „Da gibt es ganz schön viel zu beachten“. Matthias Myrczek erzählt, dass die Skepsis der Eltern gegenüber dem Projekt und der Fotofreigabe hier am HBG ziemlich hoch war. Das haben wir zuvor noch an keiner anderen Schule gehört; auch mit ihm zusammen finden wir keine Antwort auf die Frage, warum das so ist. Gerade eine Elternschaft, wie man sie hier erwartet, hat dem Thema „Bildungsgerechtigkeit“ gegenüber doch eine besondere gesellschaftliche Verantwortung, denke ich. Das scheint noch nicht Konsens zu sein; aber wir haben ja Emmi, Joshua und Aimée, drei Neuntklässler, die sich selbst entschlossen haben, mitzumachen und dafür die Erlaubnis ihrer Eltern eingeholt haben. Sie finden das Thema Bildungsgerechtigkeit interessant und möchten „gerne mal was Neues ausprobieren“. Da haben wir ja Glück gehabt, denke ich; schon jetzt habe ich den Eindruck, ich müsste mich bei den drei Fotomodellen bedanken – nicht sie sich bei uns.

Als Raum für das Fotoshooting entscheiden wir uns gemeinsam für die Aula der Schule im zweiten Stock, ein holzgetäfelter großer Raum mit hohen Glasfenstern, die teilweise bunt sind. Es steht ein gerade frisch gestimmtes Klavier auf der einen Seite der Bühne, auf der anderen Seite ein hölzernes Stehpult, der Raum ist in Reihen bestuhlt. Man kann sich vorstellen, dass jeden Moment „Die Feuerzangenbowle“ oder „Das fliegende Klassenzimmer“ hier startet. Unsere drei Fotomodelle helfen dabei, das Equipment nach oben zu schleppen. Das Auto muss zwischendrin nochmal umgeparkt werden, weil es nicht genau in der Parkbucht stand - es scheint eine Weile zu dauern, bis man hier seinen Platz findet. Während des Aufbaus in der Aula nehmen wir auch die abgehängte Decke in den Blick. Matthias Myrczek erzählt uns, dass der Dachboden darüber mindestens so beeindruckend sei wie die Aula selbst. „Die Deutschlehrer gehen da manchmal rauf, um Gruselgeschichten mit den Schülerinnen und Schülern zu schreiben“, erzählt er. Oben sei im Unterschied zum restlichen Schulgebäude sehr viel Platz, inklusive eines alten Flakschutz-Bunkers; der Dachbodenausbau wäre jedoch viel zu teuer – auch angesichts des Denkmalschutzes. Die Klassenzimmer des HBG wurden vor über hundert Jahren eingerichtet für 15-20 Kinder, jetzt sind es bis zu 31.

Mit den Fotoergebnissen des ersten Durchgangs sind die drei Neuntklässler noch nicht zufrieden. Sie bleiben mit Konzentration bei der Sache, auch in der zweiten Runde. Während Gesine die Dateien zur Ansicht auf den Rechner lädt, erzählen sie mir von der Deutscharbeit, die sie gleich zurück bekommen. Sie wissen über Notenschluss und Konferenzen bestens Bescheid; ihre Deutschnote im unmittelbar bevorstehenden Zeugnis für die unterschiedlichen Notenoptionen in der Arbeit haben sie schon mal ausgerechnet. Bei der Arbeit war v.a. Grammatik dran. Emmi erzählt, dass sie Probleme hatte, mit der Arbeit fertig zu werden; neben Grammatik und Rechtschreibung musste man auch noch einen Leserbrief schreiben, dafür hatte sie nur noch zehn Minuten.

Die drei haben schon jetzt Schwerpunkte für die Oberstufe gewählt, denn am HBG machen sie Abitur nach acht Jahren – ihre Oberstufenzeit startet also mit dem nächsten Schuljahr. Die drei wirken gut orientiert und sehr reflektiert, sie sind Gesine und mir gegenüber höflich und bleiben während der gesamten Zeit eher zurückhaltend. Ich habe nicht den Eindruck, wirklich zu ihnen vorzudringen, bin allerdings beeindruckt von ihrer sprachlichen Ausdrucksweise und von den ambitionierten und differenzierten Plänen, die sie für ihre Zukunft haben und die sie im Lauf des Gesprächs, das das Fotoshooting begleitet, mit uns teilen.

Emmi möchte Modedesign studieren. Ihr Traum ist ein Stipendium, um das im Ausland, vorzugsweise in New York zu machen. Sie erzählt, ihre Mutter habe das HBG für sie ausgesucht, v.a. wegen des bilingualen Angebots, und weil die Schule insgesamt als sehr gut gilt. Um hierher zu kommen, nimmt sie einen langen Schulweg quer durch Bremen täglich auf sich. „Das passt für mich“, sagt sie, „ich gehe gerne hier zur Schule“.

Aimée möchte Medizin oder Psychologie studieren. Sie interessiert sich sehr für Menschen. Fotos von sich mag sie normalerweise gar nicht. Dennoch hat sie sich auf die heutige Erfahrung eingelassen. Im Gespräch mit Gesine klären beide im Detail, welche Haltung für Aimée am besten passen könnte und wie sie Effekte, die sie stören, auf Fotos vermeiden kann. Ihre Leidenschaft ist Rollsport, die Sommervariante von Eislaufen. Das macht sie mehrmals pro Woche, im Verein. Im Lauf des Jahres hofft sie so gut zu sein, dass sie sich zutraut, bei Wettbewerben mitzumachen. Manchmal macht sie das mit Emmi zusammen, Emmi macht „das so aus Spaß ab und zu mal mit“. Aimée war in der fünften Klasse auf einer Privatschule, das fühlte sich für sie „nicht so offen“ an wie am HBG. Hierher ist sie in Klasse sechs gewechselt und fühlt sich als Teil der Schulgemeinschaft, auch jahrgangsübergreifend. „Man sollte auf die Leute achten“, sagt sie, „nicht wo sie herkommen, sondern wer sie sind“.

Die beiden erzählen, dass Joshua in der Deutscharbeit als einziger früher fertig war, wie eigentlich fast immer – auch in Mathe. „In Bio hab ich eine Eins“, sagt er, „da bin ich aber nicht so gut“. Joshua will „auf jeden Fall“ Lehrer werden, für welche Fächer weiß er noch nicht. Er spielt gerne Fußball, aber nicht mehr im Verein. „Mit dem Verein habe ich aufgehört“, sagt er. „So gut war ich nämlich nicht“. „Dann musst du eben besser werden“, antwortet Emmi; das scheint ihn nicht sonderlich zu überzeugen. 

Die letzte Mathe-Arbeit ist so schlecht ausgefallen, dass sie genehmigt werden musste, erzählen die drei. Es klingt nicht bedrohlich oder besorgt, aber egal scheint es ihnen auch nicht zu sein. Woran das Ergebnis liegt? Mathe liegt immer am Lehrer, erklären sie: Zu den wichtigsten Qualitäten einer guten Lehrkraft gehört ihrer Meinung nach, dass sie gut erklären kann. Das macht z.B. in Mathe einen großen Unterschied, erklären sie mir, gerade für die Kinder, die es nicht sowieso schon verstehen. Für Joshua, der eine Klasse übersprungen hat, ist das eher egal, „aber so sind ja nicht alle“.

Wir machen eine dritte Runde Porträts, in denen die drei nach einer genauen Analyse mit Gesine die besprochenen Anpassungen vornehmen. Die drei arbeiten sehr fokussiert mit. Die Lernkurve ist sichtbar steil, wenn man Runde eins und drei der Porträts vergleicht. Es ist klar: Aimée, Emmi und Joshua haben in der kurzen Zeit viel verstanden, gelernt und umgesetzt. Ihre Bereitschaft, es auch ein zweites und ein drittes Mal zu versuchen, ist ungebrochen. Der Termin läuft in Gänze auffallend ruhig und konzentriert ab, nach einer Anlaufphase habe ich den Eindruck, dass sich die Jugendlichen auf den Prozess gut einlassen können. Wir sprechen mit ihnen begleitend zu den Aufnahmen und auch noch danach über Bildungsgerechtigkeit. Dabei zeigt sich, dass diese Schülerinnen und Schüler sehr reflektiert sind. Sie können (von sich aus) mehrere Perspektiven auf eine Sache entwerfen, wägen ab und treffen vorsichtige Urteile. Sie sind artikuliert und gewandt im Ausdruck, sie wirken selbstbewusst.

Für Joshua bedeutet Bildungsgerechtigkeit: „Mann … Frau … Herkunft … Hautfarbe … – das alles darf keine Rolle spielen für die Bildungschancen, die man hat. Jeder sollte erstmal so angenommen werden wie er ist“. Seiner Meinung nach tut seine Schule das Mögliche, um das hier wahrzumachen. Konkret bedeutet das z.B. Sprachkurse für die Mitschülerinnen und Mitschüler, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind; auch am HBG gibt es Sprachförderkurse. Er will Lehrer werden, weil er durch seine eigene Erfahrung als Schüler weiß, wie man Schülern helfen kann. Von dieser Erfahrung will er im Beruf profitieren. Lehrer müssen seiner Meinung nach Schülern helfen WOLLEN, jemand der das nicht will oder den Job macht, weil er muss, sollte sich seiner Meinung nach für einen anderen Beruf entscheiden.

Noch auf dem Nachhauseweg denke ich über diese Berufswahl und Joshuas Entschlossenheit nach. Ich freue mich, dass ein Schüler wie er ausgerechnet Lehrer werden will. Wenn das gelingen würde in der Lehrkräftebildung, denke ich, dass wir öfter ausgerechnet die Besten für diesen Beruf gewinnen – dann wären wir ein ganzes Stück weiter. Wie das gelingen kann, frage ich vielleicht mal Joshua, wenn wir uns wiedersehen. Bis dahin wünsche ich mir, ihm und seinen potentiellen Schülerinnen und Schülern, dass sich nichts ändern wird an der Wahl seines Traumberufs, den er mit dem Namensgeber seiner Schule teilt.

Joshua – Hermann-Böse-Gymnasium