Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

Bildungsgerechtigkeit in der Neuen Grundschule Lehe (NGL)

Bildungsgerechtigkeit wird an der NGL als integraler Bestandteil von Inklusion verstanden und umgesetzt. Denn während es für Kinder mit attestiertem Förderbedarf ein Netz gibt, ist das für die überwiegende Mehrheit (ca. 70 bis 80%) der Kinder an der NGL, schätzt Nadine Porwoll, nicht der Fall. Als bildungsgerechte inklusive Schule nimmt die NGL jedoch alle Kinder in den Blick, die sie besuchen - auch diejenigen mit schwierigem sozio-strukturellem Hintergrund und ohne ein entsprechendes Netz. Das bedeutet, dass an der NGL alle – d.h. auch die zuletzt genannten Kinder – optimal beschult werden mit dem übergeordneten Ziel, „eine demokratische Gesellschaft zu entwickeln“. Es ist dafür erforderlich den eigenen „Mittelschichtsblick“ abzulegen,[1] der in vielen Fällen mit einer paternalistischen Haltung verbunden ist. Ein Problem an Schule ist, sagt Nadine Porwoll, dass alle erstmal die Muster reproduzieren, die sie kennen: „Das dauert, bis sich in den Köpfen da was verändert. Ich bleibe dran, denn ich will Strukturen von Schule verändern. Dazu braucht man Kraft und einen langen Atem, außerdem eine gute Portion Sozialromantik, sonst würde man verzweifeln“.[2] Sie betont, dass man als Schulleiterin extrem standhaft sein muss, um die Visionen von Schule, beispielsweise im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit, im Kollegium nachhaltig zu festigen und sie dann gemeinsam mit und in der Schulgemeinschaft weiter zu tragen. Geschieht das nicht, bleiben die lange verankerte Haltung und der damit verbundene Blick erhalten, und dann ist die Gefahr groß, dass „an Standorten wie Lehe 50-70% der Kinder einfach so durchlaufen“. In Bremerhaven gilt sie als Inklusions-Hardlinerin: „Andere kaufen Kindern Schulranzen, die sie dann mit nach Hause nehmen. Diese Versorgungmentalität liegt mir fern“. Die Alternative an der NGL heißt „Schule ohne Gepäck“ (s.u.).

Bildung ist der einzige Weg, um die zukünftige Gesellschaft adäquat zu gestalten, d.h. von Beginn an demokratisch zu entwickeln. Wenn die Kinder an der NGL nicht von Anfang an gut begleitet und beteiligt werden, „werden sie sich andere Lösungen suchen, aber eben nicht die, die für eine demokratische Gesellschaft wichtig und konstruktiv sind“. Für diese Kinder gibt es ansonsten in unserer Gesellschaft kein Netz, das sie auffängt; sie werden ins Schulsystem gedrückt, „bis es nicht mehr geht, und landen in Kriminalität oder Arbeitslosigkeit. Das kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten“, da ist sich Nadine Porwoll sicher. Sie beobachtet auf der einen Seite die Entstehung von immer mehr gesellschaftlichen Schieflagen (erkennbar u.a. an der zunehmenden Bürokratisierung oder am Fachkräftemangel), und auf der anderen Seite die Kinder an der NGL mit ungeahnten Kompetenzen und (kognitiven) Potentialen, zu denen im ersten Schritt ein Zugang ermöglicht werden muss. In diesem Sinne muss der Gestaltung einer bildungsgerechten Schule im Sinne von Demokratieentwicklung von allen Verantwortlichen oberste Priorität eingeräumt werden.

An die NGL kommen viele Kinder zunächst ohne offensichtlichen Förderbedarf bzw. ohne eine entsprechende Kategorisierung, zugleich aber auch ohne die Vorläuferfähigkeiten für beispielsweise Schriftsprachenerwerb oder Mathematik, die ein Kind aus einem deutschsprachigen Mittelschichtshaushalt typischerweise mitbringt. (Kompetenz-)Standards sind notwendig, die aktuell geltenden setzen allerdings nicht dort an, wo durchschnittliche Erstklässler an der NGL stehen - für diesen Standard waren ganz andere Kinder maßgeblich. Auf diesem Standard beruhen allerdings alle Schulmaterialien und auch die Ausbildung der Lehrkräfte; das bedeutet für die meisten Schulanfänger an der NGL „eine Ungerechtigkeit schlechthin“. Später wird es nicht systematisch besser: Ab Klasse drei beginnen „das System Schule und die Kategorisierung zu greifen“, d.h. den Kindern werden ggf. formal Förderschwerpunkte zugeordnet – „oder eben auch nicht“. Die Frage nach der kriterialen Norm, an der das festgemacht wird, ist aus Nadine Porwolls Sicht nicht ausreichend geklärt. Für sie ist das (kognitive) Potential ihrer Schülerschaft entscheidend, das sie nicht anders als das an anderen Standorten einschätzt, das aber wegen einiger Barrieren nicht von Anfang an abgerufen werden kann. Diese Barrieren haben nicht die betroffenen Kinder zu verantworten – ihre Potentiale sind es aber, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen ab Klasse eins nicht adäquat in Schulleistungen abgebildet werden. Bildungsgerechtigkeit an der NGL bedeutet, für die Kinder und Familien in einem ersten Schritt Strukturen herzustellen (z. B. Essensangebote,[3] gebundener Ganztag), Maßnahmen zu implementieren (z.B. nachhaltige Sprachförderung) und dafür regelhaft Ressourcen bereitzuhalten, damit sie ihre (kognitiven) Potentiale abrufen können und Startbedingungen erhalten, die sich an die derjenigen Kinder annähern, die die Norm für die derzeit geltenden (Kompetenz-)Standards bilden.

Das lässt sich gut zeigen am Beispiel der sprachlichen Kompetenzen der Kinder: Die Mehrzahl der Erstklässler an der NGL haben keinen Kindergarten besucht. Bei Schuleintritt unterscheidet das System zwischen Kindern mit und ohne Kindergartenerfahrung und der Zweitsprache Deutsch, die dann ein Jahr Sprachförderung bekommen. Das reicht für die ganz überwiegende Mehrheit der Kinder an der NGL bei weitem nicht aus. Um Sprachbarrieren auch mittel- und langfristig abzubauen, hat auch das multiprofessionell zusammengesetzte Team an der an der NGL Beschäftigten einen diversen multikulturellen Hintergrund, der die sprachliche und kulturelle Herkunft der Kinder bestmöglich abbildet. Es ist in unserer multilingualen, multikulturellen Welt selbstverständlich, findet Nadine Porwoll, sich mit dem Hintergrund der Mitmenschen zu befassen und sich auf sie einzulassen, sprachlich oder in anderer Weise. Dazu leistet die NGL auf diese Weise einen Beitrag.

Eine weitere wichtige Maßnahme zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit im Sinne von Demokratieentwicklung an der NGL ist die Elternarbeit. Vor Schulbeginn werden die „neuen“ Eltern eingeladen, zunächst zu Infoveranstaltungen mit Kaffee trinken und dann für die Schulanmeldungen der Kinder. In einem vorangehenden Schritt werden diese Eltern in Kleinstgruppen an der Schule willkommen geheißen, wobei darauf geachtet wird, „sie sprachlich ‚abzuholen‘ “. Wie dabei im Einzelnen vorgegangen wird, beispielsweise im Hinblick auf die Zusammenstellung und Ansprache der Kleinstgruppen, ist entscheidend, denn: „Man lädt Eltern schon aus in der Art und Weise, wie man einlädt“. Das verdeutlicht folgendes Beispiel: In den ersten Jahren gab es an der NGL für diese Infoveranstaltungen in Form von Elternabenden generell bis zu fünf Dolmetscher; viele Eltern kamen trotzdem nicht, obwohl die Einladungen in verschiedenen Sprachen erstellt waren. Inzwischen werden die Einladungen an die neu einzuschulenden Kinder in (Sprach‑)Gruppen à zehn Personen zum Kaffeetrinken in die Schule so übermittelt, dass sie auch für nicht-alphabetisierte Adressatengruppen zugänglich sind. Geschwisterkinder können zu den Anlässen mitgebracht werden, Dolmetscher sind anwesend. In Sprachgruppen mit Dolmetscherinnen sind auch die Schulanmeldungen aufgeteilt. Im ersten Schulhalbjahr werden außerdem alle Familien der neu eingeschulten Kinder Zuhause besucht, wenn sie dies wünschen.

An der Brücke vom Elternhaus zur Schule setzt auch die Maßnahme „Schule ohne Gepäck“ an, die bedeutet, dass kein Kind mehr Schultasche, Materialien und Unterlagen von zuhause mitbringen oder aus der Schule mit nach Hause nehmen muss: Die Ausstattung wird an der NGL gestellt und verbleibt nach dem Ganztag dort. Dies war eine der ersten Maßnahmen, die Nadine Porwoll mit Gründung der NGL umsetzen wollte, auch deswegen, „weil ‚Gepäck‘ in vielerlei Hinsicht gedeutet werden kann“. Die Umsetzung an einer Einzelschule war „nicht so einfach“. Innerhalb der letzten vier Jahre ist es den Fürsprechern, zu denen auch die Nadine Porwoll gehört, jedoch gelungen, dass diese Maßnahme in Bremerhaven in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde und an vier Schulen – darunter die NGL –  in naher Zukunft als Pilotprojekt gestartet wird. Auch wenn diese Maßnahme pädagogisch zunächst nicht ganz so „reichhaltig“ ist, werden dadurch finanzielle Mittel und Fördergelder freigesetzt. Kritiker lehnen diese Maßnahme mitunter als „Vollversorgung“ ab, die Eltern völlig aus der Verantwortung lässt. Auch wenn Nadine Porwoll die Einwände nachvollziehen kann, so ist es ihr jedoch wichtiger, dass kein Kind an ihrer Schule daran scheitert, dass die Eltern nicht die notwendigen Materialien kaufen (können). Diese Prioritätensetzung ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass viele der Eltern der Kinder an der NGL in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind und aus dem Satz für Bildung- und Teilhabeberechtigung fallen. Das Kollegium trägt das Projekt „Schule ohne Gepäck“ einstimmig mit, um die (Bildungs-)Gerechtigkeit vor Ort zu erhöhen. Die wenigen Eltern, die Schulmaterialien problemlos besorgen können, werden ggf. gebeten, Geld in äquivalenter Höhe der besorgten Ausstattung sowie „freie“ Materialien an den Schulverein zu spenden.

Die Maßnahme „Schule ohne Gepäck“ funktioniert nur in Kombination mit dem gebundenen Ganztag, dessen Start an der NGL für 2024 geplant ist. Dies Maßnahme stellt insofern ein Beitrag zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit dar, als dadurch für alle Kinder vergleichbare Chancen hergestellt werden, um ihre Hausaufgaben adäquat machen zu können. Hausaufgaben sind Verlängerung von Lernzeit, ob und wie sie erledigt werden (können), ist ohne Ganztag höchst variabel. Das zeigt sich bereits innerhalb der ersten drei Monate nach Einschulung. Viele Kinder an der NGL haben ggf. nicht die Stifte und Materialien, die sie dafür benötigen oder bekommen Aufgaben, für deren Lösung zuhause keine Unterstützung angeboten werden kann. Wenn dann noch weitere Faktoren wie ein fehlendes Vorschuljahr oder eine schwierige Wohnsituation dazu kommen, ist ein Kind nicht gut versorgt mit dem, was es braucht, um (gut) lernen zu können. An der NGL soll kein Kind scheitern an Voraussetzungen, die es darin beeinträchtigen, die eigenen (kognitiven) Potentiale abzurufen und weiter zu entwickeln.

Wenn diese Maßnahmen Wirkung zeigen, bedeutet das, dass alle Kinder in die Lage versetzt werden, ihre (kognitiven) Potentiale abzurufen und ergebnisorientiert einzusetzen. Im ersten Jahr der KESS-Testung 2022[4] waren die Ergebnisse in Klasse vier an der NGL im bremerhavenweiten Vergleich gut, und das ist erst einmal zufriedenstellend. Angesichts der Auswirkungen der Corona-Pandemie ist es aktuell allerdings schwierig, festzustellen, welche Maßnahme gut gewirkt hat und welche nicht. Je jünger die Kinder in Corona-Zeiten waren, umso schlimmer sind die Auswirkungen der Pandemie. In der Pandemie-Zeit konnte der Kontakt zu den Eltern an der NGL umfänglich aufrecht erhalten werden mit einem Konzept aus analogen und digitalen Maßnahmen, die nicht nur die rein schulische, sondern auch die emotionale Ebene abdeckten. Trotzdem werden die Kinder, die jetzt die Schule verlassen haben und sicher auch noch die nächsten zwei oder drei Jahrgänge unter den Folgen leiden. Positive Wirkung zeigen die geschilderten Maßnahmen zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit außerdem durch die bestehenden guten Kontakte zu den Familien an der NGL, was Nadine Porwoll zurückführt auf die Willkommenskultur und die stets zugewandte Art und Weise, mit der Schülerinnen und Schülern sowie ihren Familien an der NGL begegnet wird. So gibt es hier beispielsweise kein Schild „Ab hier schaffen wir es alleine“ – was immer auch als Signal dafür verstanden werden kann, dass die an Schule Beschäftigen nicht so viel Kontakt mit der Elternschaft wollen. An der NGL sind auch sie ein Teil des Ganzen, der Kontakt mit ihnen wird gesucht, Eltern sind willkommen - nicht nur dann, wenn es schulische Probleme gibt. Wirkung zeigen die geschilderten Maßnahmen auch insofern, als an der NGL noch nie ein Kind suspendiert wurde, obwohl es selbstverständlich auch hier Auseinandersetzungen gibt. Diese Wahrnehmungen zur Wirkung jenseits der KESS-Ergebnisse sind nicht messbar und auch die NGL ist „sicher keine Insel der Glückseligkeit“ – es gibt auch schwierige Prozesse beispielsweise mit Kolleginnen oder Eltern, die zu lösen sind. Auch hier greift die Haltung der Verantwortlichen an der NGL: „Probleme werden nicht weggeschoben, sondern da gelöst, wo sie entstehen“.