Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

LOGBUCH Fotoshooting – Neue Grundschule Lehe (NGL)

03.05.2024, 8.30-12.30h

Ist das eine Schule oder die falsche Adresse? Wir sind zunächst nicht sicher, als wir auf der grünen Wiese neben einer Ansammlung von Containern parken, in denen – wie sich kurz darauf für uns herausstellt – die NGL seit ihrer Gründung vor sechs Jahren untergebracht ist. Von innen hat die Schule so gut wie nichts von Provisorium; im Hinblick darauf sagt die Schulleiterin Nadine Porwoll bei ihrer Begrüßung: „Die Kinder fragen mich immer, was das soll mit dem Schulneubau und mit dem Umzug - wir haben doch eine Schule! Ich verstehe das. Für sie ist vor allem Sicherheit durch Gemeinschaft wichtig. Das gibt ihnen die Möglichkeit, sich mit ihrer Schule zu identifizieren, und das geht hier schon jetzt - überall.“ Das Tape am Boden, aus dem Hüpffiguren geklebt sind, stammt aus Corona-Mitteln: „So viel Abstand hätten wir gar nie gestalten können, da dachte ich, wir machen was anderes Sinnvolles draus. In dieser Form übersteht das allerdings selten eine Grundreinigung. Im Neubau werden die Formen in den Boden eingelassen“. Zumindest Nadine Porwoll freut sich doch ein bisschen auf den Neubau, merkt man an dieser Stelle.

Sie führt uns durch die Schule. Es fällt auf, dass viele Kinder auf dem Rundgang sie zur Begrüßung spontan umarmen und sich sichtlich freuen, sie zu sehen. Sie umarmt zurück, zum Teil auch mehrmals. Das wirkt komplett natürlich. Ein Mädchen drückt bei der Umarmung besonders fest zu und sagt: „Ich muss aufpassen, dass es nicht zu dolle ist“. Nadine Porwoll sagt: „Ja, ich weiß. Das ist die ganze Liebe, stimmt’s?“. Bei allen, denen wir hier begegnen, haben wir den Eindruck: Das ist der Platz an dem sie sein, in anderen Worten: die Crew, zu der sie gehören wollen.

In der Nähe des Eingangs steht ein Kleiderständer mit ordentlich sortierten Kisten daneben. Keine Garderobe, wie wir zuerst vermutet haben, sondern eine Kleiderspende. Jeder bringt mit, was er nicht mehr braucht, und nimmt sich, was er gut gebrauchen kann. Das gibt es auch beim Sommerfest, da mit Spielsachen. „Klappt das?“, fragt Gesine. „Klar“, sagt Nadine Porwoll. Der Kleiderspendenständer funktioniert wie eine Garderobe. Ein wichtiges Prinzip an der ganzen Schule, das auch hier anschaulich wird, lautet: Keine Beschämung.[1] Das ist auch beim Leseband so, das jeden Schultag von 8.30-9.00 Uhr stattfindet als verpflichtende Lesezeit für alle Kinder. Sie nehmen sich aus Regalen im Flur für diese Zeit das Buch, mit dem sie gerade beschäftigt sind, jeder und jede das und wie er kann. Dabei bekommen alle bestmögliche Unterstützung – damit kein Kind in Klasse vier mehr die Schule verlässt, ohne lesen zu können. Das Programm läuft an der NGL jetzt seit einem knappen Vierteljahr: „Wir sind gespannt auf die Ergebnisse“, sagt Nadine Porwoll.

Wir kommen in den Zauberraum, in dem Kinder multisensorisch lernen können. Nadine Porwoll erläutert dazu: „Das Wichtige daran ist, dass alle Kinder diesen Raum nutzen können. Sonst läuft das der Idee von Inklusion ja völlig entgegen“.[2] Nach dem Zauberraum ist der Kunstraum dran. Hier stehen eine Menge Leinwände herum, die offenbar in Benutzung sind. Gleichzeitig wirkt der Raum geordnet und aufgeräumt. Nadine Porwoll kommentiert: „Ein Kind hat mal zu mir gesagt: Ich möchte endlich mal ZU ENDE TUSCHEN! Das habe ich mir gemerkt. Deswegen brauchen wir solche Räume, in denen auch mal was stehenbleiben kann.“ Weiter geht’s: „Das Elterncafé heißt hier zwar noch so, ist aber keines mehr. Die Eltern wollen und sollen hier ja mit machen und mit gestalten, nicht hauptsächlich Kaffee trinken“.

Am Ende des Rundgangs treffen wir auf die heutigen Fotomodelle: Eine Auswahl der „Kraken“ aus der 3. Klasse von Anika Fricke. Julien übernimmt zunächst die Kamera von Gesine für Porträts von seinen Klassenkameradinnen Cataleya, Sofia und Annabelle; später kommt noch Lilly aus ihrer Klasse dazu, deren T-Shirt den Aufdruck „Best crew ever“ trägt. „Schule ist gerecht, wenn man sich hier stark fühlen kann und gut, so, als ob man was kann“, sagen die Kinder. „Zum Beispiel fühle mich stark, wenn ich in Sport ein Tor schieße“, sagt Annabelle. Die Kinder haben die Idee, sich für ein Fotoset so zu verkleiden, dass sie stark aussehen, z.B. als Adler. Dieses Kostüm hat sich Cataleya ausgesucht; so fühlt sie sich stark, weil der fliegen und die Welt von oben sehen kann. Stark fühlt sich auch Julien, der den ganzen Vormittag hoch konzentriert bei der Fotografie bleibt und Gesine nicht mehr von der Seite weicht. Selber fotografiert werden möchte er zunächst lieber nicht.

Das ändert sich allerdings, als Nadine Porwoll für einen Zwischenbesuch vorbei kommt. Da wollen alle mit aufs Foto, denn „da muss sie nicht alleine durch“, meinen die Kinder. Annabelle sagt: „Das ist wie ein Familienfoto. Frau Porwoll ist die Mama, Frau Fricke die große Schwester“. „So ist es gerecht“, finden alle, als sie sich einigen auf die Anordnung oben im Bild (von links: Annabelle, Anika Fricke, Julien, Nadine Porwoll, Sofia, Cataleya). „Das wird ein Bild für den Kaminsins“, sagt Anika Fricke. Sie hat Lehramt in Bremen studiert und danach zunächst in einer Langformschule (d.h. einer von Klasse 1-10 durchgängig verlaufenden Schule) in Hamburg gearbeitet. Dann hat sie sich die NGL ausgesucht: „Kinder in dieser Altersstufe sind einfach mein Ding“, sagt sie. Man sieht es ihr an. Sie lächelt meistens, wenn ihr Blick auf ihre Kraken fällt. Zu der von Anika Fricke geleiteten dritten Klasse gehören 24 Kinder, die von bis zu acht Erwachsenen begleitet werden. Das ist eine Herausforderung, sagt die Klassenlehrerin. Man muss gut koordinieren, eine eigene klare Idee dazu haben, was passieren soll und sich durchsetzen – das lernt man erst „on the job“. Wenn man keine eindeutigen Ansagen macht, wird es unruhig, v.a. unter den Erwachsenen. Das gehöre zu ihren größten Herausforderungen, sagt Anika Fricke – und lächelt auch dabei.

Abschließend möchten wir uns von Nadine Porwoll persönlich verabschieden. Nach längerer Suche („Hier ist noch nie jemand verloren gegangen“, Originalton aus dem Sekretariat) finden wir sie in einem Klassenzimmer bei den Seehunden. Sie lässt sich schließlich nochmal in Ruhe porträtieren. „Die Kinder haben mich neulich gefragt, was ich beruflich mache. Sie haben vermutet, dass ich hier wohne“, erzählt sie, und ergänzt lachend: „Mein iPhone glaubt das auch“. Wir verabschieden uns aus der Container-Schule und sind von diesem Vormittag sehr berührt. Für kurze Zeit waren wir Teil der „best crew ever“ und nehmen diese Erfahrung auf unseren Heimweg mit. Wir haben - ungewöhnlich genug für Norddeutschland – Rückenwind.

Lilly – Neue Grundschule Lehe
Sofia – Neue Grundschule Lehe