Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

Bildungsgerechtigkeit an der Neuen Oberschule Lehe (NOL)

Bildungsgerechtigkeit ist an der NOL mehr als ein Leitziel: Es bildet „die Grundlage für alles, was hier passiert“. Grundlegend bedeutet Bildungsgerechtigkeit an der NOL zunächst einmal, die Sicherung der GRUNDBEDARFE der Kinder zu gewährleisten und sie damit in die Lage zu versetzen, ihre Potentiale bestmöglich zu entfalten. Dazu gehört, dass kein Schüler und keine Schülerin den Tag hungrig übersteht, sondern etwas Gesundes zu essen bekommt – morgens wie mittags, auf unbürokratischem Weg. Alle Kinder und Jugendlichen an der NOL sind außerdem mit einem funktionierenden iPad ausgestattet – ein „wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit“. Das iPad wird vielfach eingesetzt, u.a. zur Überwindung sprachlicher Hürden. Denn Sprache ist der Schlüssel, der das Tor öffnet und den Weg freimacht für alle weiteren Schritte auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Der Bedarf an sprachlicher Förderung im Deutschen an der NOL ist groß, da teilweise Kinder an die Schule kommen, ohne lesen und schreiben zu können. An diesem Beispiel wird besonders deutlich, „dass Schule offiziell die Erlaubnis bekommen muss, jedes Kind so zu beschulen, wie es die individuelle Situation erlaubt“. Teilweise müssen aktuell in den Zeugnissen Kompetenzen bewertet werden, die ggf. aufgrund fehlender sprachlicher Voraussetzungen noch gar nicht vorhanden sind. Bis es so weit ist, stellt es auch eine Form von Bildungsgerechtigkeit dar, sich in der eigenen Sprache artikulieren zu können. Schule muss solche Räume für Lernen bzw. Nachbereiten in der eigenen Sprache auch im Unterricht ermöglichen, damit die Schülerinnen und Schüler den Lernstoff bestmöglich verstehen können. Viele von ihnen benötigen an der NOL ihre Erstsprache übergangsweise als Übersetzungsmöglichkeit (z.B. mittels iPad), um an Sicherheit zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund haben die Verantwortlichen an der NOL eine offene Haltung zu Mehrsprachigkeit an der Schule. Die Lehrerschaft und weitere Mitglieder des Personals an der NOL bilden den multikulturellen Hintergrund der Schülerschaft nach Möglichkeit ab. Schülerinnen und Schüler werden ermuntert, sich Unterrichtsstoff in ihrer Sprache anzuschauen bzw. nachzuarbeiten, um ihn besser zu verstehen. Die Kommunikation klappt in solchen Fällen auch aufgrund des mehrsprachigen Personals oft gut.

Im Zentrum des auf die Sicherung der Grundbedarfe aufsetzenden pädagogischen Konzepts an der NOL steht die INVIVIDUELLE FÖRDERUNG der Kinder und Jugendlichen. Zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit müssen Unterrichts- und Schulentwicklung an deren existierende Lernstände angedockt werden, statt die Qualität der Schule (und damit vermeintlich ja immer auch ihrer Mitglieder) an (Kompetenz-)Standards zu messen, die für ganz andere Kontexte entwickelt wurden.[1] Die Grundvoraussetzungen der Kinder, z.B. in Bezug auf ihre Lesekompetenz, sind extrem unterschiedlich, wenn sie an der NOL ankommen; elterliche Unterstützung fehlt meistens. Daher wird an der NOL die Idee des individualisierten Lernens umgesetzt. Davon profitieren alle – nicht ausschließlich diejenigen mit Aufholbedarf z.B. beim Lesen und Schreiben. Auch Schülerinnen und Schüler, die bereits im Lernstoff weiter sind, werden auf diese Weise individuell gefördert und können in ihrem Tempo voranschreiten.

Für jedes Kind bzw. jeden Jugendlichen wird an der NOL im ersten Schritt mittels einer umfangreichen Diagnostik die Ausgangslage bestimmt und so die Grundlage für das weitere individualisierte Vorgehen gebildet. Die über diagnostische Verfahren gewonnene Fremdeinschätzung wird ergänzt im Austausch mit den Schülerinnen und Schülern durch deren Selbsteinschätzung sowie durch Kenntnisse über ihre persönliche Situation. Eine solche Selbsteinschätzung immer wieder zu erfragen und individuelle Befindlichkeiten in Erfahrung zu bringen sind wichtige Schritte, um Schülerinnen und Schüler ggf. nicht aus der Förderung zu verlieren mangels Unkenntnis über ihre persönliche Situation. Als Ergebnis dieses Vorgehens wird für jede Schülerin und jeden Schüler ein individueller Lern- und Förderplan erstellt. Je nach individueller Lernausgangslage schließen sich dann entsprechende nächste Schritte an; als Beispiele werden nachfolgend das Leseband, der klassenübergreifende Unterricht, der Profilunterricht und Unterricht für Kleinstgruppen erläutert.

Für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend ist das Leseband im Umfang von 20 Minuten pro Tag (auch im Fachunterricht), was im Kollegium zunächst auf ein geteiltes Echo stieß. Was und wie gelesen wird, hängt von der Ausgangslage des bzw. der einzelnen ab.

In den Kernfächern Deutsch, Englisch und Mathematik findet klassenübergreifender Unterricht statt. Dabei beschreiten die Schülerinnen und Schüler abhängig von ihrer Ausgangsposition unterschiedliche Wege und lernen selbstorganisiert in verschiedenen, auch fächerübergreifenden Lerngruppen. Die Lehrkräfte werden dabei pro Jahrgang jeweils von einer pädagogischen Betreuungskraft unterstützt sowie von nicht-pädagogischen Kräften; ausgebildete Lehrkräfte fungieren als Anleiter. Leistungsmessungen werden auch in anderen Formaten als der komplexen Klassenarbeit durchgeführt.

Ab Jahrgangsstufe acht bewerben sich Schülerinnen und Schüler für eines von fünf Profilen: Gesundheit/Ernährung/Sport, Glück/Resilienz, Klima/Globalisierung, Kultur/Kreativität oder Zukunft/Nachhaltigkeit, für das wöchentlich vier Stunden veranschlagt sind. Der Profilunterricht findet auch außerschulisch statt in Zusammenarbeit mit Netzwerkpartnern (z.B. aus Schule, Wirtschaft oder Wissenschaft), so dass die Jugendlichen praktische Bezüge haben und Dinge ausprobieren können. Auch aus diesem Grund ist die NOL in ihre Umgebung gut vernetzt, z.B. mit in Lehe ansässigen Betrieben und Firmen sowie mit benachbarten Schulen. Die Einführung des Profilunterrichts ist u.a. der Erfahrung geschuldet, dass allgemeine Informations- bzw. Zukunftsmessen für die Schülerschaft an der NOL nicht nachhaltig genug wirken.[2] Aufgrund räumlicher Enge findet der Profilunterricht zurzeit noch nicht jahrgangsübergreifend statt, das ist aber für den Neubau geplant. Diese Profilarbeit strahlt auf die Fächer aus; so betrifft das Profil „Zukunft/Nachhaltigkeit“ beispielsweise auch die Fächer Biologie, Chemie, Physik, Wirtschaft/Arbeit/Technik (WAT) und Sport.

An der Schule werden Schülerinnen und Schüler ohne oder mit sehr geringen Lese- bzw. Schreibkompetenzen in Kleinstgruppen unterrichtet und bekommen eigene Aufgaben. Dafür sind formal keine Kapazitäten vorhanden; die NOL kann das im Moment also nur rudimentär leisten und die dafür eingesetzten Kräfte müssen anderswo abgezogen werden. Die Schule bräuchte zusätzliches Personal, das sich ausführlich mit diesen Kindern beschäftigt, die sehr viel Anleitung benötigen – vergleichbar mit der Grundschule. So etwas könnte eine pädagogische Kraft mit der richtigen Haltung und Zugewandtheit leisten, wenn sie von einer ausgebildeten Lehrkraft gut angeleitet wird.

Einen entscheidenden Beitrag zur Erhöhung von Bildungsgerechtigkeit leistet die SCHULSOZIALARBEIT im Allgemeinen und die Zusammenarbeit mit den Eltern im Besonderen. Denn nur, wenn alle an Schule Beteiligten gut zusammenarbeiten und der Hintergrund der einzelnen Kinder bekannt ist, kann adäquat gefördert und beschult werden. Es kamen an der NOL zunächst nur wenige Eltern in die Schule, aus Desinteresse oder auch aus Scham, u.a. wahrscheinlich wegen Sprachschwierigkeiten. Deshalb versucht die Schule, alternative Formate der Kooperation mit den Familien zu entwickeln, z.B. gibt es Hausbesuche von Klassenlehrkraft, Sozialpädagogen und Schulleitung. In Corona-Zeiten haben die Schulleiterin und eine Sozialpädagogin alle jene Kinder persönlich zuhause besucht, die die Schule abgebrochen hatten. Zu den weiteren Zusatzangeboten der Schulsozialarbeit gehören neben beratenden Tätigkeiten für Schülerinnen bzw. Schüler, Lehrkräfte und Eltern (u.a. zu Themen wie Einfühlungsvermögen, Empathie, Gerechtigkeit, Sensibilität, Einzelfallhilfe, Soforthilfe und Deeskalation) auch Netzwerk- und Präventionsarbeit (u.a. Mädchengruppe, sozialpädagogische Gruppenarbeit) sowie Hilfe bei Problemen und Konflikten unter Schülerinnen und Schülern, gezielte Unterstützung sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler, Hausbesuche bei Bedarf, Teilnahme an schulischen Beratungen bzw. Konferenzen sowie Kooperationen mit dem Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentrum (ReBUZ), der Stadtverwaltung, der Polizei, diversen Erziehungsberatungsstellen und dem Jugendamt Bremerhaven.

An der NOL werden die geschilderten und mehr Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen gebündelt. Die Frage ist, wie es an der Schule wäre, wenn es die Maßnahmen nicht geben würde. Diese sind nur ein Anfang; „von Bildungsgerechtigkeit an der Schule zu sprechen, ist zu gewagt“. Die Schule kann vieles leisten, aber nicht alles; dafür braucht es mehr Unterstützung von außen. Systematisch evaluiert werden die Maßnahmen bisher nicht. Ein Indikator dafür, ob das Konzept an der NOL zu Bildungsgerechtigkeit beiträgt, ist die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die in einem laufenden Schuljahr „verloren“ gehen. Es gibt zu wenig Sonderpädagogen an der Schule und Förderschülern kann die Schule nicht immer gerecht werden; gleichzeitig ist es an der Schule selten zu schweren Vorfällen wie Ordnungswidrigkeiten gekommen – „ein positives Signal“ (CF). Die Schule bekommt aber keine bzw. zu wenig Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit sozial-emotionalen Auffälligkeiten. Ein Großteil der zu integrierenden Kinder kommt aus diesem Feld und daher müsste hier zwangsläufig viel mehr Unterstützung erfolgen – das, so versichert die Schulleiterin, kann sie auch ohne systematische Evaluation mit Sicherheit sagen.