LOGBUCH Fotoshooting – Neue Oberschule Lehe
04.06.2024, 14.00-16.00h
Als wir in der Mittagszeit den Containerbau betreten, der die NOL in den vergangenen sieben Jahren seit ihrer Gründung beherbergt, empfängt uns im Mensa- und Cafeteriatrakt ein freundliches und geschäftiges Gewusel aus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die essen und sich unterhalten. Nach wenigen Minuten, noch bevor wir mit der spontanen Hilfe einiger Freiwilliger die komplette Fotoausrüstung hereingetragen haben, zerstreuen die Menschengruppen sich wie von magischen Fäden gezogen v.a. nach draußen auf den Schulhof.
Drinnen ist Ruhe eingekehrt und außer dem Essensgeruch gibt es von der eben noch live erlebten Raubtierfütterung kaum mehr Spuren. Wir werden Zeugen dieser bemerkenswerten Transformation, denn die Mensa ist der Treffpunkt, an dem wir mit Hannah, Ann-Sophie, Sophie und Layan aus dem sechsten Jahrgang sowie ihrer Jahrgangsleiterin, Frau Matuschewski, verabredet sind. Wir begrüßen uns, stellen uns gegenseitig vor und machen uns auf die Suche nach dem Platz mit dem besten Licht im großen Mensa-Saal. Der ist bald gefunden und wir beginnen gemeinsam mit dem Aufbau des Sets.
Das Gespräch wendet sich dem Thema (Bildungs‑)Gerechtigkeit zu: Ungerecht ist, dass in Musik heute in der ersten Stunde Hannah mit dem Sprungseil gesprungen ist und dafür Ärger bekommen hat, anders als ein Junge, der dasselbe nach ihr gemacht hat – dem ist gar nichts passiert. Gerecht wäre: „Gleicher Mist = gleicher Ärger“. Verboten sind an der Schule Handy, Kaugummi, Chips, Yumyum-Nudeln („die krümeln so“) und Sonnenblumenkerne. Das gilt für alle, und das ist gerecht, denn sonst müsste der Hausmeister das aufsammeln, „und das wäre nicht gerecht, sondern gemein“.
Gerecht ist, wenn man sich darauf verlassen kann: „gleiche Punktzahl = gleiche Note“. Die Kinder an der NOL können unterschiedliche Sachen gut, gerecht ist, dass sie das (zum Teil) in der Schule rausfinden. Bei den vier Fotomodellen hat das schon mal geklappt: Hannah kann besonders gut Singen, das macht sie auch – z.B. im Chor des Stadttheaters, Layans Stärke ist Mathematik, Sophie hat eine Leidenschaft für Deutsch und Ann-Sophie (unten rechts) für das Zeichnen.
Sie hat ein weiteres Steckenpferd, von dem sie uns begeistert erzählt: Ann-Sophie ist Sprecherin im Nachhaltigkeitsteam für die Jahrgangsstufe sechs. Im Team engagieren sich Schülerinnen und Schüler aus den Jahrgangsstufen sechs bis acht; sie vereint das Ziel, die Schule nachhaltiger zu gestalten, z.B. im Hinblick auf Mülltrennung. Ann-Sophie berichtet von der Einrichtung einer Pfandbox und dass das daraus erwirtschaftete Geld für einen guten Zweck gespendet wird, den das Team selbst bestimmt. Sie erzählt mit leuchtenden Augen von ihrer gemeinsamen Teilnahme am Bundeswettbewerb „Demokratisch handeln“ (Demokratisch handeln 2024). Es sprudelt nur so aus ihr heraus: „Dazu könnte ich ewig weiter quatschen“.
Während die Mädchen mit den Fotos beschäftigt sind, kommt auch ihre Jahrgangsleiterin zwischendrin mal zu Wort. Sarah Matuszewski hat Lehramt für Gymnasium / Gesamtschule mit den Fächern Englisch und Geographie in NRW studiert. Nach Stationen an anderen Schulen in Bremen und Bremerhaven ist sie seit 2019 an der NOL. An dieser Schule kann sie machen, worauf sie Lust und woran sie Spaß hat, z.B. an der Gestaltung von offenem Lernen. Die Möglichkeit zur Partizipation hat an der NOL jeder und jede: sie selbst z.B. über die Mitwirkung an der Erstellung des Stundenplans, die Kinder, indem sie selbst entscheiden, was sie lernen und wie. Damit übernehmen sie Verantwortung für den eigenen Lernprozess und die Ergebnisse. Frau Matuszewski sagt: „Schule ist nicht immer gerecht, auch wenn wir das versuchen; die Kinder, die zuhause wenig bekommen, müssten in der Schule mehr von allem bekommen; das gelingt uns nicht immer, auch wenn wir unser Möglichstes versuchen“.
Neben dem Fototermin und dem ganz normalen Schulalltag als Jahrgangsleiterin übernimmt Frau Matuszewski am heutigen Tag die Betreuung einer jungen Frau, die vielleicht Lehrerin werden will, an ihrem Schnuppertag. Von Stress, Druck oder Unruhe merken wir an ihr keine Spur – sie wirkt auf uns wie die Ruhe selbst, dabei strahlt sie oft, v.a. dann, wenn sie ihre Schülerinnen ansieht oder sich das Gespräch um sie dreht. In ihrer Haltung ist sie klar und gibt diese auch an die junge potentielle Kollegin weiter: „Ich habe ihr gesagt, du musst den Kindern zuhören und mit ihnen reden wollen; wenn du das nicht willst, ist der Job nichts für dich, mach das nicht wegen dem festen Gehalt oder den Ferien … Wenn du es wegen den Kindern machst, wird es gut und ist ein toller Job!“. Die junge Frau kommt von einem Gymnasium, berichtet Frau Matuszewski, und hat sich gewundert, dass es an der NOL so viele offene Räume gibt. Bei ihr an der Schule sind die Klassenzimmertüren nämlich immer zu.
Wir greifen das Thema Bildungsgerechtigkeit mit den vier Mädchen noch einmal auf und wollen von ihnen wissen: Wer sorgt dafür an der Schule, und wie geschieht das? Die vier haben eine Idee: Frau Bal muss auch aufs Foto! Kurz darauf kommen sie mit ihr im Schlepptau an, für ihre Mitwirkung haben sie die Sozialarbeiterin und ihr Team schon auf dem Weg gewonnen. Frau Bal ist in Bremerhaven Lehe aufgewachsen; sie besuchte die Schule am Ernst-Reuter-Platz<![if !supportFootnotes]>[1]<![endif]>, wo sie anschließend auch ihre Ausbildung machte. Ihr Vater hat 45 Jahre im Stahlwerk in Bremen gearbeitet, ihre Mutter war eine der ersten türkischen Erzieherinnen in Bremerhaven. Sie selbst hat in Lehe zunächst als Streetworkerin gearbeitet und ist überzeugt: Viele kluge Kinder und viele Ressourcen, die in dem finanziell benachteiligten Stadtteil stecken, werden häufig unterschätzt. Sie beobachtet allerdings, dass viele dieser Kinder inzwischen zum Glück die Angebote nutzen, die die verbesserten Infrastrukturen im Stadtteil ihnen bieten; insofern hat sich ihrer Einschätzung nach bereits einiges zum Positiven verändert mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit. Ablesbar ist das für sie u.a. daran, dass für Kinder der dritten Einwanderergeneration ein akademischer Abschluss keine Ausnahme darstellt, das gilt „gerade auch die Frauen“. An der NOL würde mehr Personal in ihrem Bereich dringend gebraucht, sagt sie, für 500 Schülerinnen und Schüler stehen zwei feste Sozialarbeiterinnen, eine Kollegin im Anerkennungsjahr sowie eine Werkstudentin zur Verfügung. Auf dem Gruppenfoto wirkt die geballte Teamkraft der Sozialarbeit an der NOL bestehend aus Frau Bal, Frau Blanken, Frau Yildirim und Frau Telaku allerdings eindrucksvoll und so zeigt die NOL zum Abschluss unseres Fototermins noch einmal Haltung!

