Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

LOGBUCH Fotoshooting Schule am Ernst-Reuter-Platz Bremerhaven

12.04.2023, 8.30-12.00h

Das ist unsere erste Schule. Gesine und ich sind beide ein bisschen aufgeregt, wie das heute wohl wird und ob es uns gelingt, gute Ergebnisse zu erhalten, in erster Linie bedeutet das für uns: mit den Leuten vor Ort in Kontakt zu kommen. Das sind:

  • Nicole Wind, Olaf Hüllen und Christof Meier, die ich aus dem Interview schon kenne.

  • Chris Carstens und ihr (Schul-)Hund Blue, die an der Ernst! für die Werft (s.u.) verantwortlich zeichnet.

  • Die Hauptpersonen des heutigen Vormittags: Farouk, Rimas, John und Mohamad; sie sind alle zwischen 12 und 13 Jahre alt und gehören zur siebten Klasse, die Nicole Wind leitet. Mit dem Einverständnis ihrer Erziehungsberechtigten haben sie sich zu einer Teilnahme am Fototermin bereit erklärt.

Die vier führen uns in die Werft, einen Raum, der eigens dafür gestaltet wurde, dass Schülerinnen und Schüler sich bei Bedarf zurückziehen können. Zu diesem Zweck gibt es beispielsweise eine wabenartige Konstruktion an einer der vier Wände des Raumes. In diesem Raum wird der Fototermin auf Wunsch der vier Schülerinnen und Schüler hauptsächlich stattfinden. Auf dem Weg dorthin, bei der Vorbereitung und Durchführung des Fotoshootings sprechen sie mit uns, über dies und das, v.a. über ihre Schule, ihren Alltag und ihre Zukunftspläne, zwischendrin und am Ende auch über (Bildungs-)Gerechtigkeit.

Farouk hat in zweieinhalb Wochen Geburtstag, er wird 13 Jahre alt und weiß nicht so recht, was er sich wünscht. Er ist ein kleiner, aufgeweckter und wendiger Junge. So wichtig sei sein Geburtstag auch wieder nicht, antwortet er mir auf meine Nachfrage. Wenn er sich was wünschen könnte, hätte er lieber „nur zwei Geschwister, idealerweise einen Bruder und eine Schwester“. Eigenen Aussagen zufolge hat er weniger als ein Jahr gebraucht, um Deutsch zu lernen nach der Ankunft seiner Familie in Deutschland. In der Schule fühlt er sich wohl und angemessen behandelt. Auch wenn er nicht alle Lehrer gleich gut findet: das geht für ihn in Ordnung. Er ist der Einzige aus der Vierergruppe, der Bruchrechnung schon beherrscht – das sagt er selbst, und die anderen bestätigen es so. Als es in einer Situation zu einer Meinungsverschiedenheit wegen eines Fotos kommt, sagt er zu Rimas: „Komm, mach mit. Wir sind doch Freunde. Das machen wir jetzt zusammen“. Farouk fragt mich, warum ich nicht mehr als Lehrerin arbeite und ob ich vielleicht an die Ernst! kommen will. Ich fühle mich geschmeichelt und denke kurz nach, was das für mich bedeuten würde: Einen deutlich weiteren Weg zur Arbeit, jeden Tag – bei deutlich schlechterer Bezahlung. Sicher auch mehr regelhaften Stress durch die vorgegebene Taktung eines Schulalltags und eines Schuljahres. Auf der Haben-Seite die direkte Resonanz von Kindern und Jugendlichen wie Farouk, die Chance, sie in ihrer Entwicklung zu begleiten, einen spürbaren Unterschied zu machen und unmittelbar Wirksamkeit zu entfalten. Ob das Schulsystem mich als Quereinsteigerin überhaupt noch integrieren könnte? Es bleibt ein Gedankenspiel, aber ein interessantes, das mir verdeutlicht, was diejenigen leisten, die hier jeden Tag Verantwortung übernehmen.

Rimas ist das einzige Mädchen in der Gruppe. Zu Beginn wirkt sie eher schüchtern und möchte nicht ohne Hand vor dem Gesicht fotografiert werden. Sie ist sehr freundlich und taut im Laufe der Zeit auf. Dann erzählt sie, dass sie sich sehr für Fotografie interessiert und selbst eine Kamera besitzt. Deswegen hat sie sich zur Teilnahme am heutigen Fotoshooting überhaupt entschlossen, nicht weil sie fotografiert werden möchte, sondern weil sie sich für Fotografie interessiert. Nach einer kurzen Zeit fragt sie Gesine, ob sie fotografieren darf und steht ab diesem Zeitpunkt hauptsächlich hinter der Kamera. In ihrer neuen Rolle gibt sie den anderen sehr konkrete Regieanweisungen und besteht freundlich, aber bestimmt darauf, dass die umgesetzt werden. Wenn ihre Mitschüler eine andere Idee als sie haben (Farouk: „Jetzt kommst du auch mal mit ins Bild“), kann sie sich nach kurzem Zögern darauf einlassen. Sie hat wie Farouk eigenen Aussagen zufolge sehr schnell Deutsch gelernt, das nicht ihre Erstsprache ist. In einer Diskussion mit der Vierergruppe zeigt sie sich sehr reflektiert, artikuliert und sprachgewandt. Sie hat eine klare Position dazu, was Gerechtigkeit in der Schule bedeutet: So, wie es mit den Ukrainern gelaufen ist, ist es richtig. Ohne Ansehen von Äußerlichkeiten werden alle erstmal gleich behandelt, unabhängig von ihrer Religion, Hautfarbe, Muttersprache, Aussehen. Ein Urteil über einen Menschen sollte man sich erst machen, wenn man ihn kennt. Das findet Rimas gerecht. 

John (unten rechts im Bild) ist der stillste der vier. Er hat ein verschmitztes Lächeln, das er z.B. zeigt, als Nicole Wind in der Vorstellungsrunde auf seinen „wunderschönen zweiten Vornamen“ (Jeremias) hinweist. Zu Beginn des Aufenthaltes in der Werft fragen die Jungs, ob sie ihre Handys auspacken können. Ab diesem Zeitpunkt ist Johns Handy an, es läuft beinahe ununterbrochen ein Spiel (Autorennen?). Er scheint die anderen jedoch immer im Blick zu haben, ist durchweg ansprechbar und wendet den Blick vom Handy ab sowie sich jedem Gesprächspartner zu, wenn er angesprochen wird – oft mit seinem unverwechselbaren Lächeln im Gesicht. Er und Mohamad werden im November ein Praktikum bei Schmidt und Koch in Bremerhaven machen; sie wollen KFZ-Mechatroniker werden, erzählen sie mir.

Mohamad (unten links im Bild) ist der erste und ein sehr zuverlässiger Ansprechpartner für uns – das Schwergewicht der Gruppe. Als ich den Raum nicht finde, in dem die vier mit Gesine sind, ruft die Schulsekretärin ihn aus, um mich abzuholen: Er kommt sofort. Begeistert erzählt er vom bevorstehenden Praktikum bei Schmidt und Koch; er informiert mich darüber, dass es wichtig ist, sich dort gut zu benehmen, weil man dann seine Chancen auf einen Ausbildungsplatz erhöht. Zum Beispiel muss man pünktlich kommen und „sich vernünftig anziehen“. Während des Fotoshootings macht Mohamad so ziemlich alles mit, was die anderen aus der Gruppe vorschlagen. Längere Zeit sitzt er in einer der Waben oben und kommentiert das Geschehen aus der Vogelperspektive. Als er von dort herunter steigen will, braucht er kurz Zeit, um sich zu orientieren, wie das geht - am besten nämlich rückwärts. Staunend beobachte ich, wie Farouk ihm das ganz unauffällig zeigt: Als er gemerkt hat, dass Mohamad Schwierigkeiten hat, ist er kurzerhand selbst in eine der Waben hoch geklettert und macht ohne ein Wort darüber zu verlieren den Abstieg einmal vor. Aha, denke ich. Das hat Olaf Hüllen, der stellvertretende Schulleiter, vielleicht gemeint, als er mir im Interview sagte, man könne hier viel lernen. Unten angekommen hat Mohamad das Geschehen dann allerdings wieder im Griff: Er weiß wo es langgeht und teilt sein Wissen mit den anderen. Beispielsweise hat er ganz klare Ideen dazu, wer beim Gruppenbild am besten wo steht. Aus der Ruhe bringen lässt er sich nicht. Der schönste Ort der Schule ist seiner Meinung nach das Büro von Nicole Wind. Er hat acht Geschwister, erzählt er mir beiläufig aus der Wabe.

Zwischendrin kommt Chris Carstens vorbei mit dem Schulhund Blue (beide unten im Bild). Sie ist Lehrerin an der Ernst! und hat die Werft mit aufgebaut („mein Baby“); Blue hat bis vor einem halben Jahr noch auf der Straße in Spanien gelebt, wirkt allerdings jetzt, als hätte sie nie etwas Anderes als Schulhund gemacht.

Gesine und ich werden im Anschluss an das Fotoshooting noch an die wichtigsten Plätze der Schule geführt, dazu gehören die Büros von Christoph Meier, Nicole Wind und Olaf Hüllen sowie die Mensa. Auch ihre Klasse zeigen uns die vier zum Abschied noch. Sie bedauern aufrichtig, aber mit einem Lächeln im Gesicht, dass sie jetzt noch für eine halbe Stunde in den Unterricht müssen.

Gesine und ich sind erschöpft – wir brauchen jetzt eine Pause, obwohl der Kaffee von Christoph Meier uns gut durch den aufregenden Vormittag geholfen hat. Ich verlasse die Schule mit einem wachen und fast enthusiastischen Gefühl: ein Funke ist übergesprungen von den Menschen, denen wir heute begegnet sind. In der Zwischenzeit hatte ich einen Durchhänger mit der Expedition Bildungsgerechtigkeit und fragte mich, ob das ganze Unterfangen sinnvoll ist. Seit diesem ersten Fototermin an der Ernst! kenne ich die Antwort.