Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

Bildungsgerechtigkeit in der Schule an der Fritz-Gansberg-Straße (FGS)

Das Kollegium an der FGS hat über viele Jahre eine gemeinsame Haltung[1] zum Thema Bildungsgerechtigkeit entwickelt, und so vereint sie dazu eine inzwischen im Kern übereinstimmende Position:[2] Hier wird in jedem Fall versucht, noch irgendwie am Schüler dranzubleiben.[3] Oberste Priorität hat, dass kein Schüler verloren geht und dass allen die Möglichkeit erhalten bleibt, zu arbeiten – d.h. hier ggf. auch, an sich zu arbeiten. „Unsere Message an die Schüler ist: Wir bleiben verlässlich, wir wollen weiter machen – mit dir, wir suspendieren dich nicht, ohne dir ein Kontaktangebot zu machen bzw. in Kontakt mit dir zu bleiben. Für uns ist es immer noch besser, jemand schaut am Tag mal kurz rein oder kommt einmal die Woche vorbei - statt gar nicht“ (JB). Wenn es nicht anders geht, werden Schüler auch zuhause aufgesucht. In Fällen, in denen jemand droht abzubrechen, wird schulseitig versucht, ein passendes individualisiertes Angebot zu stricken, das das verhindert. Die Motivation dafür ist klar: „Es gibt eine gesellschaftliche Verantwortung für Kinder, die abgehängt sind. Sie müssen abgeholt werden, wo sie sind, auch ihre Eltern, und die Gelegenheit haben, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen“ (BH).

Das Kontaktangebot der FGS schließt die Eltern systematisch ein. Die „wollen häufig gar nicht, dass ihre Kinder an die Regelschule zurück wechseln, die sagen: ‚Hier meldet sich die Schule nicht nur dann, wenn was Schlimmes ist, sondern auch mal so‘. Wir rufen nämlich regelmäßig nicht an, wenn was Schlimmes ist, denn sowas ist ja immer. Wir sehen auch die Kompetenzen der Kinder jenseits der Standards und können auch den Wunsch der Eltern nachvollziehen, die fast alle das Beste für ihr Kind wollen. Das kommunizieren wir auch so“ (JB).[4] Die FGS pflegt einen sehr intensiven Elternkontakt, immer und für alle Schüler, sofern möglich und gewünscht. Das gilt auch in Situationen, in denen das sonst „nicht so üblich ist“ (JB). Sie berichtet vom Beispiel eines Schülers im Praktikum an der Werkschule. Jemand von der FGS ruft dort zuhause einmal die Woche an und fragt nach, ob alles ok ist. Nicht um zu kontrollieren, sondern um klar zu signalisieren: „Wir sind da, wenn Hilfe gebraucht wird“ (JB). Die FGS bietet ferner Unterstützung bezüglich Familienhilfe bzw. Erziehungsbeistand an und hat in diesem Bereich ein großes Netzwerk von Kontakten, die aktiv gepflegt werden. Mitunter werden dazu auch die Eltern eingeladen; „diese Begegnungen ganz bewusst“ (JB). Einzelne Kollegen sind außerdem im Bereich Erziehungshilfe stark engagiert, immer vorausgesetzt, die Familien wollen das. Das beinhaltet alles von der Suche nach Therapeuten über die Erinnerung an den Termin für die nächste ADHS-Überprüfung oder die telefonische Nachfrage im vierzehntägigen Rhythmus, ob die Einlösung der Verordnung für eine Sehhilfe erfolgt ist. Johanna Badelt weiß, dass das in einer Regelschule mit 24 Schülern nicht möglich wäre. Das ist zeitintensiv und wäre in einer Regelklasse mit 24 Mitgliedern nicht möglich. Es ist aber wichtig für die Schüler an der FGS und ihre Familien, auch für die Beziehungsarbeit.

Arbeiten und lernen im Kontext von Schule bedeutet an der FGS nicht gleich Mathe, Deutsch oder Englisch; das steht hier nicht im Vordergrund. Für die Mitglieder des Kollegiums steht zunächst vielmehr die Frage im Vordergrund: „Was muss ich tun, um einen Raum zu schaffen, damit Lernen für unsere Schüler möglich ist?“.[5] Die Schüler kommen hier oft mit Paketen an, die es ihnen gar nicht ermöglichen im Sinne von Kompetenzerwerb im Fachunterricht sofort zu arbeiten; das heißt aber nicht, dass sie das nicht wollen. Die können nicht lernen, weil so viel Anderes sie erstmal daran hindert. Wir überlegen immer, ob es für den Schüler noch eine Alternative zum Kontakt- und letztlich dann Schul-Abbruch gibt, irgendeinen Anknüpfungspunkt“ (JB). Mit den Schülern arbeiten an der FGS bedeutet häufig, die Voraussetzungen dafür (wieder) zu schaffen, dass Lernen im Sinne von Kompetenzerwerb (wieder) möglich wird.

Bildungsgerechtigkeit bedeutet an der FGS nicht, dass alle einen Abschluss haben, sondern: „Unsere Schüler gehen hier raus und haben erfahren: Ich kann was - das muss nicht unbedingt Englisch, Mathe oder Deutsch sein; das kann auch was ganz Anderes sein. Ich kann mein Leben führen, ich krieg das in den Griff. Ich habe vielleicht eine Idee davon, wie es nach der Schule weitergeht. Wenn wir schaffen, dass diese Haltung an die Stelle einer totalen Hilflosigkeit tritt, dann ist das aus unserer Sicht ein Beitrag zu Bildungsgerechtigkeit“ (JB). Bildungsgerechtigkeit bedeutet hier also, die Schüler zu einer Lebensführungskompetenz zu befähigen, die es ihnen ermöglicht, Teil der Gesellschaft und nicht ausgeschlossen zu sein.[6] Im Leitbild der Schule steht nicht das Wort „Bildungsgerechtigkeit“, dort heißt es: „Im Rahmen des inklusiven bremischen Schulsystems sind wir ein vernetzter und einzigartiger Teil und kommen damit dem Recht aller Schüler auf Bildung und Erziehung nach. Alle Schüler sollen das Recht erhalten, ihr Leben eigenständig und positiv zu gestalten“. Die Lehrkräfte an der FGS sehen sich als diejenigen, die dabei helfen, diese Rechte auch zu bekommen: „Nur weil ich das Recht auf etwas habe, heißt das ja noch lange nicht, dass ich es auch bekomme. Da sind wir nötig. Unsere Schüler können das nicht, und ihre Eltern, z.B. wegen Sprachbarrieren, auch nicht. Das machen wir, so verstehen wir uns als Schule“ (JB). Wenn die FGS diese selbst gesetzten Ziele erreicht, „kriegen wir von den Erfolgen unserer Schüler leider nichts oder nicht viel mit. Das ist schade und auch ein bisschen ärgerlich für uns“. Wenn die Schüler in der Regelschule gut klar kommen, gilt das Motto: „No news is good news“. Positivbeispiele im Hinblick auf das Ziel Lebensführungskompetenz gibt es allerdings schon. Ehemalige Schüler kommen immer mal wieder zu Besuch und berichten, wie sie es geschafft haben. Zuletzt ein ehemaliger Schüler, der inzwischen fest angestellter Möbelpacker bei Hansetrans ist und die FGS aus beruflichen Gründen wieder aufsuchte: „Das hat er mir ganz stolz erzählt und auch, dass er jetzt eine Freundin und mit ihr zusammen eine Wohnung hat. Da freue ich mich und denke: ok - das hat geklappt, der ist angekommen. Sowas passiert immer wieder. Manchmal kommen auch ehemalige Schüler, die jetzt in der Berufsschule sind, und erzählen unseren aktuellen Schülern, wie gut sie es hier haben, was sie sich hier alles leisten können und was die Lehrer hier alles aushalten. Insofern kann man schon sagen: es kommt was zurück“ (JB).

Die Art, wie an der FGS Unterricht verstanden und umgesetzt wird, spiegelt dieser Prioritätensetzung. Der Unterricht ist personalintensiv: In den Lerngruppen gibt es eine Doppelbesetzung, „das ist eine wichtige Maßnahme zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit“ (JB). Eine von beiden Personen kann dann den Unterricht im Fokus haben, die andere sich eher um andere Problemlagen kümmern, d.h. beispielsweise auch bei Bedarf den Raum mit einem Schüler verlassen. An der Schule arbeiten ein bis zwei Sozialpädagogen, die denselben Anspruch wie die Lehrkräfte haben, den Schülern gegenüber aber eine andere Rolle einnehmen und ihnen anders begegnen: „Das bedeutet, dass wir trennen können zwischen stärker unterrichtlichen und anderen Anliegen. Überspitzt gesagt muss kein Schüler mehr Bedenken haben, dass etwas Kritisches, was er jetzt dem Sozialpädagogen erzählt, sich auf seine Mathe- oder Deutschnote niederschlagen könnte. Diese Trennung hilft allen“ (JB). Ferner wird an der FGS zieldifferent unterrichtet, das schlägt sich in einem entsprechend angepassten Stundenplan nieder. Es kann beispielsweise einen Hauswirtschaftstag geben, oder einen Sportschwerpunkt. Das brauchen Schüler manchmal, um dann auf ihre Fähigkeiten, die sie im normalen schulischen Rahmen haben, zurückgreifen zu können. An der FGS ist das möglich, „wohl wissend, dass wir darüber erstmal Wissenslücken – beispielsweise in Mathe oder Englisch – generieren“ (JB). Sicherheit aufbauen, einen verlässlichen Ort schaffen, erstmal in Ruhe ankommen können: „Wir führen Logbücher, in denen drinsteht, ob ein bestimmtes Ziel erreicht wurde, das wir individuell gesetzt haben – nicht das, was schlecht war. Das bedeutet auch Wertschätzung“ (JB). Die Ebenen, auf denen Maßnahmen zur Stärkung von Bildungsgerechtigkeit angesiedelt sind, findet man an der FGS folgerichtig erstmal jenseits des klassischen (Fach-)Unterrichts. Im Stundenplan bzw. Wochenplan findet man eine Stunde Mathe, Englisch oder Sachunterricht, das wird auch differenziert als Angebot vorbereitet; es ist aber nicht immer dieser klassische Unterricht, der dann auch stattfindet. Störungen im Verhalten haben immer Vorrang. Der Unterrichtsalltag ist nicht vollgepackt mit Fachunterricht, andere Entwicklungsfelder können bedarfsorientiert in den Vordergrund rücken. Das hat auch damit zu tun, dass bei vielen Schülern der klassische Fachunterricht häufig negativ besetzt ist, v.a. bei den älteren Schülern. Das hat oft mit ihren brüchigen Bildungskarrieren, die z.B. durch Klinikaufenthalte oder ähnliches entstehen, zu tun.

Mit Blick auf das System im Land Bremen schafft diese Haltung aber Probleme: Schüler, die aus Sicht der FGS regelschulfit sind, bekommen nicht selten Schwierigkeiten mit der Rückführung, die formal nach ein bis zwei Jahren anzustreben ist. Denn an dieser Stelle werden ihre oft hohen Lernrückstände im Hinblick auf fachliche Kompetenzen offensichtlich: „In den Jahren, in denen sie bei uns waren, standen andere Sachen im Vordergrund. Wenn ich mit einer Kollegin in einer Regelschule spreche, an die einer unserer Schüler zurückgeführt werden soll, passiert es, dass die mir beispielsweise sagt: ‚Das schafft der doch nie mit dem Schulabschluss in zwei Jahren‘ “. Die Regelschulen sind aber gehalten, eine möglichst hohe Prozentzahl von Abschlüssen zu generieren; das passt dann nicht zusammen.[7] „Und da sind wir dann wieder bei der Frage: Was heißt Bildungsgerechtigkeit mit Blick auf das Ganze? Versteht man darunter, das Niveau der Abschlüsse soweit runter zu setzen, dass alle einen schaffen? Oder möchte man die Schüler gar nicht erst wieder im System haben, die einen solchen Abschluss nicht schaffen können? Diese letzte Variante hat für mich dann gar nichts mit Bildungsgerechtigkeit zu tun“ (JB).

Lernzieldifferentes Unterrichten im Regelschulsystem würde für diese systemische Problemlage eine Lösung bieten. Das würde z.B. konkret bedeuten: jemand, der bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Schule nicht lesen gelernt hat, muss es dann auch nicht mehr lernen und bleibt trotzdem Teil des Regelsystems; „beispielsweise könnte einem solchen Schüler ja eine App falls nötig relevante Texte vorlesen“ (JB). Ein solcher Schritt, also der Verzicht beispielsweise auf die Lesefähigkeit, bedarf einer sorgfältigen pädagogischen Entscheidung und Abwägung, wäre aber möglicherweise dann ein sinnvoller Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit. Wenn Schüler der FGS zurück in ein System geführt werden sollen, in dem zielgleicher Unterricht die Norm ist, gibt das in der Regel Probleme. Schülerinnen und Schüler können aktuell in Bremen nur zieldifferent unterrichtet werden, wenn sie eine Statuierung im Förderschwerpunkt „Lernen“ haben. Anders ausgedrückt: „Unser System weiß in der Regel: Der Schüler hat diese oder jene Problemlage. Er braucht aber einen Förderstatus dafür, dass man ihm gerecht werden kann – mit zieldifferentem Unterricht. Das ist aus meiner Sicht nicht gerecht und widerspricht sich“ (JB). Das setzt sich in den Berufsschulen fort: Gerade für Schüler mit Förderschwerpunkten wie an der FGS gibt es gar dort keine greifenden Systeme. Lehrkräfte stellt das vor die Frage, ob sie mit einem Schüler, der kognitiv dazu in der Lage ist, einen Regelabschluss generieren sollen. Denn sie wissen: „[W]enn er den hat, kann er nur in die reguläre Berufsausbildung oder die normalen ABS-Klassen – wir wissen aber: das schafft er so noch nicht. Wir beraten durchaus Eltern und Schüler mitunter anders und sagen: Du kannst das zwar – du bist fit! Lege keine Prüfung ab und behalte damit den Förderstatus Lernen“ (JB). Daraus ergeben sich für ihn vielfältigere Möglichkeiten z.B. in Bezug auf alternative Berufsschulmaßnahmen. „Gerade vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussion, in der immer wieder gesagt wird: ‚Gerecht ist, wenn alle denselben Abschluss machen‘, ist festzuhalten: Diese Annahme ist zu undifferenziert und hat nicht alle Schüler im Blick, gerade unsere nicht. Wenn unsere Schüler einen Abschluss hätten, wäre das System auf sie nicht vorbereitet“. Das ist nicht gerecht. Alle Schüler sollten die Möglichkeit erhalten, ihr Leben als konstruktiver Teil des Systems eigenständig und positiv zu gestalten. Im Moment blockieren sich hier die unterschiedlichen Systemebenen selbst, aus dem daraus entstehenden Stillstand finden die Lehrkräfte an der FGS für ihre Schüler Umwege, falls erforderlich.