Bildungs­gerechtigkeit:
Schlüssel zur Zukunft

LOGBUCH Fotoshooting Grundschule an der Humannstraße (GSH)

Wir haben Verstärkung dabei: eine elfjährige Praktikantin, Emilia, die selbst die sechste Klasse eines niedersächsischen Gymnasiums besucht. Sie unterstützt heute Gesine im Rahmen des Zukunftstages, in dem Schülerinnen und Schüler in Berufe reinschnuppern, heute also in den der Fotografin.

Im hellen Eingangsbereich der Schule werden wir herzlich empfangen von Sonja Deppe, der stellvertretenden Schulleiterin, die das Projekt schon als Interviewpartnerin begleitet hat. Wir bekommen eingangs von ihr eine kurze Schulführung und lernen, dass jede Jahrgangsstufe in einem Teil des Hauses untergebracht ist. Diese Cluster sind sowas wie ein Haus im Haus, jeder Teil hat einen je eigenen Gemeinschaftsraum (mit Lerninsel mittig und Separees seitlich, in die man sich mit einer kleinen Gruppe zurückziehen kann) und eine eigene Farbe (z.B. rot für die Viertklässler), einen Garderobenbereich und Toiletten. Vom Gemeinschaftsraum gehen die jeweiligen Klassenzimmer ab, es gibt viel Glas, überall im Haus ist es hell und es wirkt großzügig. Als wir den Gemeinschaftsraum der vierten Klassen besichtigen, sagt Gesine: „Hier ist es aber schön“. Sonja Deppe antwortet lächelnd: „Klar. Hier ist es überall schön“.

Zentral sind die Mensa und Fachräume (z.B. Musikraum, Forscherraum und Snoezelenraum). Die Räume und die Art, wie sie gestaltet sind, geben den Takt und die Struktur vor, in einer alle Anwesenden wertschätzenden Weise. Die Umgebung signalisiert: Es ist entscheidend, dass du gerne hierher kommst, an einen so wichtigen Ort wie Schule. Diese Räume vermitteln allen, die hier sind und hierher kommen ohne Ansehen der Person in einer unaufgeregten Weise: Du bist wichtig, deswegen ist es hier schön. Das ist (Bildungs-)Gerechtigkeit: Jeder, der hierher kommt, findet (s)einen Platz: Emilia kann mitmachen, die Kinder himmeln sie an. Der Hund, den wir dabei haben heute (wegen einem Betreuungsengpass), wird von der Schulsekretärin für den Vormittag adoptiert, als sie draußen kurz Pause macht, nimmt sie ihn mit – damit er auch mal rauskommt. Die Lehrkräfte und die Personen treten für uns als Besucher hinter dem Raum fast zurück: Sie fügen sich eher ein als Teil der Ausstattung oder als diejenigen, für die die Räume zur Benutzung vorgesehen sind. Das Ergebnis ist ein angenehmes Gefühl, das sich so beschreiben lässt: Für dich ist gesorgt in dieser Umgebung.

Unsere Fotomodelle heute sind acht Viertklässler, die uns bereits aufgeregt erwarten. Wir machen uns gemeinsam mit ihnen auf die Suche nach einem geeigneten Raum und landen schließlich in der Schulbibliothek. Das ist einer der besonderen Räume der Schule: Hier dürfen die Kinder der vierten Klasse zu bestimmten Zeiten rein. Das ist in vielen Räumen der Schule so: Ihre Benutzung ist klar geregelt.[2] In den Bewegungsraum zum Beispiel können die Schüler mit Begleitung gehen, die dem Unterricht gerade nicht konzentriert folgen können oder aufgrund psychischer , physischer Beeinträchtigungen eine zusätzliche Bewegungseinheit benötigen.

Das findet Jessica ungerecht. Wer stört, darf was machen, was die anderen, die arbeiten, auch gerne machen würden. Den Bewegungsraum würde sie auch gerne öfter nutzen. Eigentlich muss man doch die belohnen, die arbeiten, meint sie. Außerdem ist für sie ungerecht, dass auch diejenigen, die einen längeren Schulweg haben, genauso pünktlich da sein müssen wie die anderen. Wer länger braucht, sollte nicht früher losgehen, sondern später ankommen dürfen.

Unsere Modelle heute sind neben Jessica noch sieben weitere Viertklässler (insgesamt zwei Jungs und sechs Mädchen); sie sind alle zwischen neun und zehn Jahre alt. Sie sind – bis auf eine Ausnahme (s.u.) -während des gesamten Vormittags (8.30-11.30h) mit Eifer bei der Sache.

Ismail ist der erste, der sich traut. Er möchte lieber alleine als zusammen mit anderen fotografiert werden. Nach einer Viertelstunde beschließt er, dass es für ihn mit dem Fotoshooting reicht und macht sich zurück auf den Weg in seine Klasse.

Agnesa ist ein Mädchen mit Pferdeschwanz und Brille; sie wirkt zunächst eher schüchtern. Dass nicht alle Kinder den Fahrstuhl benutzen dürfen, findet sie ungerecht. Allerdings kennt sie genau die Regeln für die Benutzung (Kinder mit Gehbehinderung, jemand, der etwas Schweres zu tragen hat) und kann die prima erklären. Agnesas stärkste Sprache neben Deutsch ist albanisch.

Auf Meglenas rotem Nike-Sweatshirt steht „Just do it!“ – das passt zu ihr, wie wir mit der Zeit noch merken werden. Im Lauf des Vormittags verliert sie ihre Scheu und dann stellt sich schnell heraus: sie ist eines der Kinder, die sich am besten ausdrücken können. Das macht sie auch. Sie hat klare Vorstellungen von Bildungsgerechtigkeit: Wenn jemand drei Bücher hat und die anderen nur zwei, nimmt man dem einen ein Buch weg. Das ist es wieder gerecht.

Wie alle der Kinder, die heute hier sind, spricht Zeynep neben Deutsch noch mindestens eine weitere Sprache, bei ihr ist es türkisch. Sie findet ungerecht, dass es jetzt weniger Obst gibt, weil mehr Kinder an der Schule sind. Die Obstmenge ist bei steigender Schülerzahl gleich geblieben.

Albatoul findet es ungerecht, dass es nur drei Stunden Sport (und nicht mehr) gibt. Sie kann arabisch und erinnert in ihrem weißen Tüllrock an eine Fee. Es stellt sich aber raus, z.B. beim Kampf um den Platz auf dem Wasserbett im Snoezelenraum (s.u.), dass sie ihren Platz gut verteidigen kann.

Adilisas Sprache, die sie neben Deutsch beherrscht, ist albanisch. Sie wirkt zunächst viel älter als die anderen, ist aber eher schüchtern und fasst erst mit der Zeit Vertrauen zu uns. Am Ende umarmt sie Emilia, Gesine und mich und sagt, wir müssten unbedingt wieder kommen. Sie findet es ungerecht, dass die Kinder ihr Handy nicht mitnehmen dürfen in die Schule.

Seyit, der zweite Junge, hat sich mit einem weißen Hemd gut auf den Fototermin vorbereitet. Das, was hier stattfindet, betrachtet und behandelt er mit großer Ernsthaftigkeit. Er sagt uns, dass er es zwar ungerecht findet, dass man als Viertklässler auch Essen probieren muss, das man erstmal nicht so gerne mag – erst danach gibt es Obst. Aber irgendwie versteht er das auch, sagt er. Schließlich gehen er und seine Klassenkameraden bald in die weiterführende Schule. Da muss man sich ganz schön anstrengen, damit man dranbleibt. Bei ihm wird das wahrscheinlich die Oberschule am Park sein, erzählt er uns, denn an der nahe gelegenen NOG ist nicht für alle Platz.

Wir sprechen abschließend mit den Kindern über Bildungsgerechtigkeit und die GSH: Geht es gerecht zu, in der Bildung, an ihrer Schule? An dieser Stelle merkt man es deutlich: Sie sind stolz auf ihre Schule. Sie kommen gerne hierher. Am Ende bitten wir sie, uns das zeigen, was für sie die Schule ausmacht. Wir dürfen eigentlich nur zu dritt durch die Schule gehen. Sie wollen alle mit. Ich sage: „Dann geht das nur, wenn sich sieben verhalten wie drei“. Das wird unser Motto bei der Tour durch die Schule: „Sieben wie drei“. Es funktioniert gut. Die Kinder zeigen uns dabei „besondere“ Räume, die inzwischen zu ihrem Alltag gehören, wenn wir sie betreten, spürt man ihren Stolz und den Respekt, mit dem sie den Räumen und Einrichtungsgegenständen begegnen: Wir gehen von der lichtdurchfluteten Mensa mit Blick auf das Außengelände, das teilweise noch entsteht, zum Musikraum zum Forscherraum zum Snoezelenraum. Das ist für sie ein Höhepunkt, denn in diesen Raum darf zwar prinzipiell jede und jeder rein, allerdings nur zu besonderen Gelegenheiten.[4] Aufs Wasserbett dürfen sich immer nur zwei legen, diese Regel kennen sie gut und setzen sie selbstständig um; das sorgt für Quängelei und ein bisschen Stau. Wir gehen schließlich auch noch in den Außenbereich, die Kinder turnen an Geräten, die aussehen, als wären sie letzte Woche erst aufgestellt worden. Der Außen- wie der Innenbereich wirken immer noch wie neu.

Wir haben den Eindruck: Es ist (schöner) Raum genug für alle hier, niemand muss um (s)einen Platz kämpfen. Diese Schule bietet eine ansprechende Umgebung für alle – auch für die unangemeldeten und eher ungewöhnlichen Gäste wie z.B. für unseren Hund oder unsere Schülerpraktikantin. Allen wird unaufgeregt ein Platz eingeräumt. Zum Abschied bekommt jede von uns eine Umarmung von jedem Kind. Sie fragen, ob wir nochmal wiederkommen und wie wir sie auf dem Laufenden halten werden über den weiteren Fortgang des Projekts: „Denn nächstes Schuljahr werden wir an dieser schönen Schule nicht mehr sein“, erinnert uns Zeynep. Wir versprechen, dass wir dran bleiben. Dann verabschieden wir uns mit dem nachhaltigen Eindruck, wie schön Schule als Raum gestaltet sein kann und welche unerwarteten Perspektiven sich für alle dadurch bieten. Das macht was mit den Menschen, die sich darin aufhalten: Wir verlassen diesen Ort ziemlich entspannt und merken erst jetzt, wie ruhig es heute den ganzen Vormittag über war. Dazu, so sind wir uns sicher, hat der Raum, in dem wir uns aufgehalten haben, eine ganz Menge beigetragen.

Seyit – GSH